Ein international geschätzter Chef des höchsten Theaters des Landes – abgesetzt. Ein renommierter Generalmusikdirektor an der Oper – verlässt das Land. Ein Musical, in dem Homosexualität eine Rolle spielt – nach Druck einer regierungsnahen Zeitung vom Spielplan gestrichen. Das ist seit langem die Realität in Ungarn. Mit geschickten Mitteln ist es der Regierung Orbán gelungen, die Kultur im Land unter Kontrolle zu bringen. Das Beispiel Ungarn zeigt, wie Rechtspopulisten die Kultur als Mittel des patriotischen Nationalstolzes und des eigenen Machterhalts missbrauchen – und wie sie dabei vorgehen.
Kultur unter Druck
Zuletzt machte das Land Schlagzeilen, weil es einen staatlichen Rat zur Lenkung der Kultur gründete. Kurz zuvor verabschiedete die Regierung ein umstrittenes Kulturgesetz, das ihr mehr Macht über die Kulturstätten im Land ermöglichen sollte. Dieser Vorschlag stieß damals eine Welle der Empörung hervor, in Budapest demonstrierten Tausende gegen die Pläne der Regierung. Doch diese Schritte sind nur einige von vielen auf dem Weg zu einer zunehmend verstummenden Kulturszene in Ungarn.
In Ungarn ist Kulturpolitik zur Chefsache geworden. Es begann 2010 mit der Wahl Viktor Orbáns zum Ministerpräsidenten. Bereits in den ersten Jahren seiner Regierungszeit hat seine Fidesz-Partei etliche Reformen durch das Parlament gebracht und Intendantenposten mit regierungsnahen Leuten besetzt. Der Fidesz regiert in Ungarn mit einer 2/3-Mehrheit, die es ihm ermöglicht, Gesetzesvorhaben unkompliziert und ohne große Debatten im Parlament durchzusetzen. Davor schreckt die Partei auch im Bereich der Kultur nicht zurück.
Die bedeutenden Schaltstellen des Landes gerieten mehr und mehr in die Hand regierungsfreundlicher Personen – auch in der Kultur. Während die EU auf die Vergehen Ungarns in Puncto Rechtstaatlichkeit oder neuerdings Corona-Notstand hinwies, ist der Bereich Kultur weitestgehend ohne große Widerstände zunehmend unter Druck der Regierung geraten.
Intellektuelle prangern an
Paul Lendvai hat die Hoffnung auf eine Besserung längst verloren. Der 1929 geborene Schriftsteller ist einer der schärfsten Kritiker der Regierung Orbán. Ihn besorgt, welchen politischen Weg sein Heimatland im letzten Jahrzehnt eingeschlagen hat. Mit seinen 91 Jahren ist er längst in einem Alter, in dem ihn die Politik nicht mehr kümmern müsste. Aber das wäre nicht seine Art. Paul Lendvai gehört zu denjenigen, die ihren kritischen Geist bis ans Lebensende fortführen. Und er spart nicht an Kritik an der ungarischen Regierung, mehr noch, er bringt sie überall unter, wo er kann.
Er macht keinen Hehl daraus, was er von der aktuellen Situation der Kultur in Ungarn hält: „Ein beispielloser Niedergang auf allen Gebieten, was die finanzielle und moralische Situation betrifft.“ Als kritischer Geist könne man diese Regierung nicht unterstützen. Besonders nicht in der Kultur, wo Kritik ein essenzielles Mittel der Wahl ist. „Es gibt keinen einzigen ernstzunehmenden Schriftsteller, Dichter oder Essayisten, der sich mit dieser Regierung solidarisch erklären würde. Es ist eine Bewegung seit dem April 2010, die auf die Gleichschaltung der Kultur und der Wissenschaft gerichtet ist.“ Als die Fidesz-Partei im Jahr 2018 wiedergewählt wurde, habe sich der Druck auf die Kulturhäuser nochmals verschärft.
Von gestrichenen Subventionen und abgesetzten Intendanten
Im Laufe der Zeit habe sich herausgestellt, dass die Partei von Viktor Orbán immer mehr Macht über das kulturelle Leben gewinnen wollte, so Paul Lendvai. „Es wurde klar, dass diese Regierung auch im Bereich der Geisteswissenschaften, im Bereich der Theater und der Verlage die letzte Kompetenz übernehmen bzw. ausüben will.“
Als Beispiel nennt er die Vertragsverlängerungen in den Theatern, bei denen regierungskritische Leute regelmäßig das Nachsehen haben: „Da werden die besten Direktoren der Theater nicht verlängert.“ Ein solcher Fall hat sich am Nationaltheater in Budapest ereignet. Robert Alfödi war einer von denen, die der Kulturpolitik des Fidesz zum Opfer fielen. Von 2008 bis 2013 war er Direktor des Nationaltheaters – weltweit geschätzt für seine Stücke und sein Know-How, bis man ihn absetzte. Beobachter vermuten allein aus politischen Gründen. Auch Paul Lendvai teilt diese Einschätzung. „Zu viel Nacktheit und alles Mögliche, was diesem Regime nicht gefällt. Ein großartiger Mann und man hat ihn nicht verlängert.“
Man habe ausgenützt, dass er links und schwul sei, um ihn abzusetzen. „Wo sie ein Theater übernehmen z.B. das Nationaltheater in Budapest, geht es darum, dass sie Stücke nicht aufführen, die einen kritischen Geist zeigen.“ Robert Alfödi tat genau das und machte sich damit zur Zielscheibe im ungarischen Parlament. Ihm wurde vorgeworfen, er sei ein Verräter für das Ungarntum und seine Stücke seien zu pessimistisch gewesen, wie er im Deutschlandfunk erzählt. Er passte wohl schlichtweg nicht in das Ungarnbild, das nun in den Kulturhäusern des Landes vermittelt werden soll. Das Nationaltheater wollte sich auf Anfrage von terzwerk nicht zu den Vorwürfen äußern.
Ein weiteres Instrument, um kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen, ist die Verteilung von Subventionen. So hat beispielsweise das renommierte 56er-Institut, das sich mit der Aufarbeitung der ungarischen Geschichte beschäftigte, kein Geld mehr von staatlicher Seite erhalten, erzählt Paul Lendvai. Zuerst habe man sie unter Druck gesetzt, dann die Subventionen gestrichen und später mit einem Museum vereinigt, das in den Händen eines von der Regierung ernannten Mitarbeiters ist.
Stattdessen habe man Institute mit mittelmäßigen oder schlechteren Leitern besetzt, die sich nun mit der Umschreibung der Geschichte beschäftigen. Auch die Schulbücher wurden im Zuge der zahlreichen Reformen geändert: Dort kam es sogar zum Tabubruch, denn erstmals wurden aktuelle politische Ereignisse in die Bücher aufgenommen. Orbán wird darin mit einer Rede zur Flüchtlingskrise zitiert und aus Sicht von Lehrervertretern nicht ausreichend neutral dargestellt.
Im nationalen Grundlehrplan stehen nun Begriffe wie „Nation“, „Identität“ oder „Familie“ im Vordergrund, während die Worte „Demokratie“, „Menschenrechte“ oder „Rechtsstaat“ in den Hintergrund gerückt sind. Weltweit anerkannte Schriftsteller wie der Holocaust-Überlebende und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész werden aus dem Lehrplan gestrichen, die Schriften antisemitischer Autoren wie Albert Wass zur Pflichtlektüre erklärt.
„Auch die Oper ist in den Händen von den Leuten, die mit der Regierung verbunden sind“, kommentiert Paul Lendvai. Dabei sei die Regierung immer subtil vorgegangen, um kritische Kunst zu unterdrücken, statt einen konkreten Spielplan vorzugeben: „Sie diktieren nicht, was gespielt wird, sondern ganz einfach: Entweder sie geben kein Geld oder sie erhöhen die Steuer oder sie ernennen, wo es Kompetenz der Regierung ist, neue Direktoren“, sagt Paul Lendvai. „Also es geht nicht so wie in einer offenen Diktatur wie in der kommunistischen Zeit oder in Russland. Die Leute werden nicht eingesperrt, sie verlieren nur ihre Jobs.“
Diese Kulturpolitik hat enorme Auswirkungen auf die Kulturszene im ganzen Land, egal ob Musiktheater, Opernaufführungen oder Kleinkunstbühne. Die angeblich freie Kultur, auf die von Seiten der Regierung immer hingewiesen werde, sei nichts weiter als Dekoration, so Lendvai. „In Wirklichkeit wird auch das Kulturleben sehr weitgehend von dieser Regierung bestimmt.“
Das kulturelle Herz wandert aus
Viele Intellektuelle haben nach den zahlreichen politischen Reformen, die im Wesentlichen auf ein Stärken der Macht der regierenden Fidesz-Partei hinausliefen, dem Land längst den Rücken gekehrt und im Rest Europas ihre Bestimmung gefunden. Unter ihnen finden sich berühmte Namen wie der Pianist Sir András Schiff. Er kritisierte die Fidesz-Regierung von Viktor Orbán öffentlich und wurde damit zum Ziel einer Hetzkampagne. Nach massiven Angriffen gegen seine Person und etlichen Drohungen zog er sich aus Ungarn zurück. Paul Lendvai bedauert das bis heute, doch für ihn ist der Fall ebenso symptomatisch für die Lage der Kultur im Land: „Der größte und berühmteste Pianist des Landes tritt nicht in seiner Heimat auf. Das ist eigentlich der beste Beweis.“
Auch Ádám Fischer hat das Land verlassen. Bis 2010 war er Generalmusikdirektor an der Ungarischen Staatsoper in Budapest. Heute ist er als Dirigent bei den Düsseldorfer Symphonikern und beim dänischen Underholdningsorkester tätig.
In Ungarn sieht er sich nur noch als Gast. Zurzeit dirigiert er beispielsweise die jährlichen Wagner-Tage im Konzerthaus Budapest. Er sei nun in einer anderen Position, seit er nicht mehr im eigenen Land um Subventionen und Vertragsverlängerungen kämpfen muss, erzählt Fischer im Gespräch. „Ich stelle meine Bedingungen und wenn der Konzertveranstalter, mit dem ich verhandele, darauf nicht eingehen kann, dann mache ich das Ganze nicht.“ Das macht ihn, wie er sagt, unabhängig von den ungarischen Behörden. „Dadurch bin ich nicht so von der Situation getroffen und kann freier reden und arbeiten.“
Für die ungarischen Künstler, die ihren Lebensunterhalt im Land verdienen müssen, erschwere sich die Situation jedoch zunehmend: „Der Staat versucht, die Künstler abhängig zu machen: Wohlbenehmen wird belohnt und der, der sich auflehnt, wird nicht unterstützt. Die Regierung versucht durch Verteilung von Geld, die Kunst zu kontrollieren. Meine Sorge ist, dass die Künstler und Schriftsteller alle langsam eine Art von Selbstzensur üben.“
Fischer beschreibt die Situation so: „Es gibt die Freiheit der Kunst. Man darf alles machen. Aber die Möglichkeit ist nicht frei.“ Künstler werden „vernachlässigt, unterdrückt und die Abhängigkeit der Kunst von staatlicher Unterstützung wird benutzt.“
Gründe für seinen Weggang aus der Budapester Oper waren aber nicht nur seine Ablehnung zur Regierung Orbán. Ádám Fischer hat auch Probleme mit der Mentalität der Ungarn, die den Aufstieg Viktor Orbáns erst ermöglicht habe. „Eine Mentalität, dass man durch persönliche Bekanntschaften und Abhängigkeiten weiter kommt als mit Begabung. Das gibt es dort.“ Das habe es auch davor schon gegeben, aber die Regierung Orbán habe dieses Abhängigkeitsverhältnis auf die Spitze getrieben. „Bei mir ist das der letzte Tropfen auf den heißen Stein gewesen, dass ich da weggegangen bin.“ Er sei in diesem System immer eine Art Fremdkörper gewesen, dadurch dass er so lange in Westeuropa sozialisiert sei.
Patriotische Stücke statt liberale Werte
An seiner ehemaligen Stelle, der Budapester Staatsoper, dominieren nun patriotische Stücke und Sichtweisen. Gezeigt werden soll Fischer zufolge „die patriotische Sicht der Geschichte, diese Opferrolle: Ungarn wurde immer nur von allen kritisiert und die richtige Tugend der Ungarn wurde nicht anerkannt.“ Die Oper wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Schauplatz zahlreicher Skandale, bei denen es immer auch um Politik ging:
Die vorherige Spielzeit der Oper stand unter dem Motto christlich-geistliche Spielzeit. „Man konnte also nur christliche Opern spielen oder patriotische historische ungarische Opern. Für diesen Slogan haben sie Geld bekommen“, erzählt Fischer sichtlich fassungslos und fügt gleichzeitig hinzu, wie lächerlich er den Slogan findet: „Natürlich konnte man vieles von den bekannten Opern doch aufführen, weil man kann Don Carlos spielen oder Parsifal, weil es auch christliche Opern sind, aber trotzdem musste man beweisen, dass man christlich eingestellt ist – und dafür haben sie ein extra Geld vom Staat bekommen.“
Szilveszter Ókovács, der Generaldirektor der Ungarischen Staatsoper, sieht auf Anfrage von terzwerk kein Problem mit dem Begriff christliche Spielzeit. Schließlich biete man auch andere Programme wie „Die Vorgänger und Anhänger Wagners“ oder „Puccini´s Italien“ an.
Für Schlagzeilen sorgte die Budapester Staatsoper auch, als sie bei der Aufführung der Oper „Porgy and Bess“ den Willen des Komponisten George Gershwin missachtete. Das Stück handelt von dem Leben der Afroamerikaner in einem schwarzen Viertel in Charleston (USA) um 1870. Gershwin hatte verfügt, dass das Stück ausschließlich von Schwarzen gespielt werden darf, auch Blackfacing hatte er strikt untersagt. Dieser Verpflichtung wollte die Staatsoper jedoch nicht nachgehen und setzte für ihre Vorstellungen ausschließlich weiße Sänger ein. Die ungarischen Sänger haben sich dazu kurzerhand per Unterschrift zu Afroamerikanern erklärt.
Ein anderes Mal war der Aufschrei noch größer, als im Jahr 2018 das Musical Billy Elliot mitten in der Spielzeit abgebrochen wurde. Eine regierungsnahe Zeitung hatte gegen die Aufführung gewettert, da sie Homosexualität propagieren würde. Daraufhin wurden die restlichen Veranstaltungen abgesagt. Laut Oper wurde das Musical nur deswegen abgebrochen, weil es zu wenige Besucher anzog. Kritiker überzeugt diese Stellungnahme jedoch nicht. Auch Fischer meint, der Fall des Musicals Billy Elliot sei typisch für das, was in Ungarn seit langem passiere: „Etwas, was nicht der christlichen Moral mit Frau und Mann entspricht, das darf man dort nicht spielen.“
„Es wird nicht so gesagt, dass es verboten wird. Es ist nicht so, dass von dem Ministerium ein Anruf kommt: “Bitte, das Stück dürft ihr nicht spielen!” Aber der Direktor weiß genau, dass er dann mehr Subvention bekommt, wenn er sich fügt.“
Der Generaldirektor Szilveszter Ókovács streitet die Nähe zur regierenden Fidesz-Partei nicht ab: „Die Direktoren staatlicher Institute werden immer von der Regierung ernannt. Daher sollte es nicht überraschen, wenn es neben der Berücksichtigung beruflicher Qualitäten ideologisch einen gemeinsamen Standpunkt gibt.“ Trotzdem sieht er die künstlerische Freiheit auch weiterhin gewahrt. „Wer es nicht glaubt, sollte hierher kommen und sich umschauen: Wählen sie Theaterstücke, Gemälde und Medienprodukte aus, die die Regierung kritisieren.“ Konkret danach gefragt, welche kritischen Stücke die Oper in der letzten Zeit aufgeführt hat, kann er jedoch keine nennen. Dafür hält Ókovács die Oper aber auch nicht für den richtigen Ort. Schließlich sei die Ungarische Staatsoper „kein Fast-Food-Restaurant, kein Studiotheater und keine schnell reagierende Tagespresse.“
Die Kultur als Spielball der Politik
Die Kultur hat Ádám Fischer zufolge schon vor der Wahl des Fidesz durch die Vorgängerregierungen erhebliche Schäden erlitten. Er habe immer für das Prinzip plädiert, die Höhe der Subvention für Oper oder klassische Musik gesetzlich festzulegen, so wie dies beispielsweise in Deutschland der Fall ist. „Sodass unabhängig davon, wer jetzt Direktor ist, führende Position hat oder was genau sie machen, die Höhe der Subvention gesetzlich festgelegt“ ist. Das sei nicht möglich gewesen. Stattdessen habe man sich in Ungarn an das Prinzip der sich stetig abwechselnden Direktoren gewöhnt: „Wenn eine neue Partei an die Macht gekommen ist, dann wurden die Theaterdirektoren auch ausgetauscht – unabhängig davon, dass sie einen Vertrag hatten für eine längere Zeit.“
„Was mich dort entsetzt hat ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die Leute das akzeptiert haben. Ich bin an Deutschland gewöhnt oder an Großbritannien: Es hätte einen Aufstand gegeben, wenn man einen Regisseur mitten in der Produktion absetzt, weil man weiß, dass er eigentlich für die Opposition ist.“ In Ungarn sei das hingegen normal. Fischer findet das befremdlich: „Wenn das Geld von einem Theater, das nicht-regimekonforme Stück aufs Programm setzt, weggenommen wird, dann würde man in einem demokratisch sozialisierten Land viel größere Proteste hervorrufen. Die Leute in Osteuropa leisten weniger Wiederstand gegen Diktatur wie in Westeuropa“, findet Fischer und man verfalle sehr schnell in undemokratische Reflexe zurück.
Budapest als Hort der Liberalität
Im letzten Jahr musste die regierende Fidesz-Partei einen schweren Rückschlag verkraften, als in der Stadt Budapest der Oppositionspolitiker Gergely Karácsony mit 50,6 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt wurde. Einige Monate später kam das, was viele Beobachter als Racheaktion der Regierung Orbáns an der Wahl Karácsonys ansehen: Ein neues Kulturgesetz. Es soll der Regierung noch mehr Macht über Kulturstätten geben und dort ansetzten, wo bisher noch unabhängige und freie Kunst möglich ist. Und eine Stadt trifft es ganz besonders: Budapest.
Die Theater, Opernhäuser und Kulturstätten haben besonders in der Hauptstadt eine große Tradition. In Budapest gibt es noch eine reichhaltige Kulturszene, die unabhängig von der Regierung agiert, darunter viele städtische Theater, die nicht von der Regierung, sondern von der Stadt Budapest abhängig sind. „Aber überall versucht man, mit Steuern oder anderen Maßnahmen jene, die unabhängig oder kritisch sind, zum Verstummen zu bringen“, so Lendvai.
Es gibt in Budapest also durchaus noch „Theater, wo die Regierung nicht das Sagen hat“. Paul Lendvai nennt das die „Inseln der Unabhängigkeit“, aber die Stadt werde dennoch ausgehungert. Überall spüren Kunstschaffende den Druck der Regierung und da ist auch Budapest keine Ausnahme. „Es hängt sehr weitgehend davon ab, ob der Bürgermeister kritisch mit der Regierung ist oder nicht.“ Die Wahl Gergely Karácsonys könnte für die Stadt also ein Lichtblick sein, sofern die Macht der Stadt als Träger für Kulturstätten nicht anderweitig beschnitten wird.
Kritik unerwünscht
Sowohl Ádám Fischer als auch Lendvai sprechen in den Gesprächen mehrmals vom Regime Orbán. Sie verwenden diese Bezeichnung fast synonym für den Begriff „Regierung in Ungarn“. Beide wurden in ihrem Heimatland schon mehrmals für ihre kritische Haltung zur Regierung massiv attackiert. Beide sprechen von einer sehr deprimierenden Situation. Paul Lendvai zieht mehrmals im Gespräch den Vergleich zum Kommunismus: „Es ist insofern ähnlich dem Kommunismus, dass es im Kádár-Regime auch hübsche Straßen und eine scheinbar blühende Stadt gab und dahinter, hinter der Fassade, gibt es dann Armut, soziale Gegensätze usw.“ Auch Ádám Fischer findet, das Land rutsche langsam zurück dorthin, wo es vor der Wende war.
„Natürlich gibt es auch eine dünne Schicht, die profitiert“, meint Paul Lendvai, doch „es ist eine korrupte Gesellschaft, ein durch und durch korruptes System – nach Bulgarien das korrupteste in der Europäische Union.“ „Es ist ein Staat, der sozusagen nach außen für christlich-konservative nationale Werte eintritt und das bedeutet, dass alles, was freigeistig, liberal ist, abgelehnt wird.“
Dazu gehören auch Dinge und Hemmungen, die westliche Gesellschaften seit Jahrzehnten überwunden haben. Dies reiche vom verpönten Genderkurs an der Uni bis hin zum Frauenanteil von 12,6 Prozent im ungarischen Parlament, dem kleinsten in ganz Europa. „Es gibt viele Sachen, die auf eine Art rückwärtsgewandte, immer mehr provinzielle, intolerante Gesellschaft hinauslaufen“, meint Lendvai. Das zeige sich auch am Umgang mit Nichtregierungsorganisationen: „Sie betrachten die NGOs wie Transparency International, Human Rights Watch oder Amnesty alle als Agenten des Imperialismus und des Globalismus. Sie sehen daran, wie gefährlich der freie Geist sein kann. All das schafft eine Atmosphäre, in der die liberale Gesinnung, die offenherzigen Stellungnahmen verpönt sind.“
Die gelähmte Öffentlichkeit
Dass die Kulturpolitik der Regierung kaum auf der öffentlichen Tagesordnung in Ungarn steht, hat auch damit zu tun, dass das Land in Sachen Pressefreiheit erhebliche Defizite aufweist. Im Ranking von Reporter ohne Grenzen ist das Land auf Platz 89 aufgeführt und damit eines der Schlusslichter in Europa. Bereits kurz nach Orbáns Amtseintritt setzte in den öffentlich-rechtlichen Medien des Landes eine beispiellose Kündigungswelle ein. Heute sind dort so gut wie keine kritischen Berichte mehr über Viktor Orbán zu finden. Stattdessen spricht Orbán in der Sendung „180 Minuten“ im staatlichen Kossuth Rádió regelmäßig selbst zum Volk und kann dort ohne große kritische Nachfragen seine Sicht der Welt erzählen, wie der Medienforscher Gábor Polyák im Deutschlandfunk berichtet.
Auch das Angebot an kritischen, privaten Medien sank im Laufe der Jahre immer weiter. Dabei ging die Regierung mal offensiv, mal geschickt im Hintergrund vor. Kritische Zeitungen wurden aufgekauft und geschlossen, wie im Fall der traditionsreichen liberalen Zeitung Népszabadság und kritischen Radiostationen wie Klubradio verweigerte man die Lizenz. Mittlerweile umfasst eine riesige Holding einen Großteil ungarischer Zeitungen. Der Chef Gábor Liszkay ist ein enger Vertrauter von Viktor Orbán.
Immer wieder übt die Regierung zudem Druck auf Journalisten im In- und Ausland aus. Zuletzt löste ein Beitrag der Satiresendung „Gute Nacht Österreich“, in dem der Moderator Peter Klien die Medienpolitik Viktor Orbáns auf satirische Art kritisierte, Empörung beim Regierungssprecher und regierungsnahen Medien Ungarns aus. Der ORF hatte es extra auf Ungarisch untertitelt, damit die Sendung auch in Ungarn verfolgt werden kann. Binnen kurzer Zeit erreichte das Video mehr als eine halbe Million Aufrufe.
Unabhängige Medien gibt es heute hauptsächlich noch im Internet, doch dabei handelt es sich meist nur um Nischenangebote, die nicht von vielen Leuten gelesen werden. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass der Fernsehsender RTL Klub mittlerweile in Ungarn als kritischer Sender gilt, wie Peter Klien in seiner Sendung erheitert feststellt. Keine guten Voraussetzungen also, um auf breiter Basis darüber zu diskutieren, wie die Kulturpoltitk der Regierung einen womöglich unbezifferbaren Schaden angerichtet hat, denn Kritik findet de facto nicht statt.
Gerne hätten wir zu all den Vorwürfen, die im Text aufgeworfen werden, auch den Standpunkt der ungarischen Regierung zu Wort kommen lassen. Leider haben wir trotz mehrfacher Anfrage keine Antwort auf unsere Fragen erhalten.
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Vielleicht trägt auch die ungarische Sprache dazu bei, dass sich dieses Land immer weiter von Europa entfernt? Diese Frage ist durchaus berechtigt, denn die ungarische Sprache ist mit Ausnahme von Ähnlichkeiten zum finnischen Sprachstamm kaum in Europa verbreitet. Zudem gibt es nicht viele Übersetzungen von dem, was in Ungarn passiert. Viele Nachrichten aus Ungarn erreichen den Rest Europas somit erst gar nicht. Dadurch können sich ungarische Politiker in ihrer Heimatsprache durchaus vieles erlauben, was im Rest Europas längst für einen Skandal gesorgt hätte, meint Ádám Fischer.
„Die Ungarn leben in einer Blase wegen der Sprache. Die meisten Ungarn sprechen nicht richtig Fremdsprachen und lesen auch keine fremde Literatur. Was in der ungarischen Presse kursiert, das wäre, wenn es in Deutschland geschrieben wäre, sofort von viel mehr Menschen wahrgenommen. Es dauert immer eine Weile, bis die Leute davon etwas erfahren.“
Vor einigen Jahren habe er das beim Gang durch seine Heimatstadt Budapest selbst erlebt, als er eine Gruppe von Touristen beobachtet hat. „Wenn in Berlin oder München auf einer Straßenbahnhaltestelle jemand auf ein Plakat schreibt: “Juden raus!”, das wäre ein Skandal – in Budapest habe ich so etwas öfter gesehen vor ein paar Jahren und die ausländischen Touristen haben es nicht gemerkt, weil die Sprache so anders ist.“
„Und die Ungarn wissen auch, dass das, was auf Ungarisch ist, nicht verstanden wird. Die Abgeschiedenheit durch die Sprache ist ein sehr wichtiger Faktor für die Radikalisierung der Ungarn.“
Ob sich zeitnah etwas an der Situation ändern werde, hängt Fischer zufolge davon ab, wie sehr die Europäische Union auf die Probleme in Ungarn aufmerksam wird.
„Es gibt ein ungarisches Sprichwort: Ein Hund bellt und das Geld redet. Wenn weniger Geld käme, dann würden sie umdenken. Appelle, auch von Intellektuellen und Proteste, die nutzen nix. Also das ist hart, was ich jetzt gesagt habe und so eindeutig, aber Westeuropa darf nicht aus der Verantwortung entlassen werden.“ Wir sollten uns mehr damit beschäftigen, was in Ungarn passiert, findet Fischer.