Jazz der Renaissance des Jazz

Renaissancemusik ist langweilig, Jazz ist zu kompliziert und Rockmusik zu laut. Phrasendrescherei hingegen ist einfach. Vor allem dann, wenn ein Album all diese Musikstile in sich vereinen soll.  Die MusikerInnen Lee Santana (Vihuela und Zitter), Antje Rux (Sopran), Andreas Wahl (E-Gitarre) und Marthe Perl (Viola da Gamba) haben sich das altspanische Liebeslied Donde son estas serranas? geschnappt und daraus ein ganzes Konzeptalbum gemacht. 13 hörenswerte Titel, die irgendwo zwischen Rück- und Fortschritt, Vergangenheit und Gegenwart, Vokal- und Instrumentalmusik pendeln.

Das mag zunächst so klingen, als wäre das Projekt bereits zum Scheitern verurteilt, ist aber großes Genrekino. Denn das dem Album zugrundeliegende Lied stammt ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert und lässt in keiner Note Einflüsse von Jazz, Rock oder Romantik erkennen. Dass diese ungewöhnliche Mixtur trotzdem gelingt, ist auch der ungewöhnlichen Instrumentierung der Titel zu verdanken. Denn mit einer Vihuela, die als Vorläufer der heutigen Gitarre bekannt ist, und einer Viola da Gamba werden Instrumente benutzt, die ganz tief in der Vergangenheit verwurzelt sind. Auf der Gegenseite: Verzerrte Gitarren, aufgedrehte Verstärker und ein sogenannter E-Bow, mit dem der Klang der Gitarre noch durchdringender und drückender klingt.

Das erste Stück betreibt ein bisschen Foreshadowing und stellt schon einmal die Besonderheiten der nächsten 58 Minuten vor, ohne jedoch den Scheinwerfer direkt auf sie zu richten. Elektrische Gitarre trifft auf spanische Vihuela. Während die Vihuela im Hintergrund sanfte Akkordbrechungen spielt, steht die Gitarre im Vordergrund, die sich mit ihren elegisch-schwebenden Legato-Tönen hervorragend an die Vihuela heranschmiegt.

Danach folgt das Herz – und Titelstück, das sich nur scheinbar im Fahrwasser des ersten Titels bewegt. Nicht nur Sopranistin Antje Rux und Marthe Perl an der Viola da Gamba verstärken den Klang, sondern auch der Jazz schleicht sich vorsichtig an die Renaissance und umarmt sie im Gitarrensolo so stark, dass er sie auch für die nächsten 50 Minuten nicht mehr loslassen wird. Die Musik wird von einer bittersüßen Melancholie – einmal Gänsehaut, bitte! – bestimmt, die vor allem von Antje Rux gleichsam zerbrechlichen, aber bestimmten Stimme getragen wird.

Auch die Melancholie bleibt ein ständiger Begleiter und durchbricht immer wieder das dichte Instrumentengeflecht, um beim Zuhörer düstere Emotionen auszulösen.
So passiert es, dass man sich in „Elfen“ in dunkelste Gefilde begibt und sich am ehesten im Horrorfilm wiederfindet.
Halleffekte, es quietscht und knarzt, gehauchte Stimmfetzen, die direkt aus dem Untergrund zu kommen scheinen. Es dauert über drei Minuten, bis Antje Rux den Hörer von diesen Klängen fortreißt, mit ihrer sirenenhaften Stimme umgarnt  und in die Wälder von Avila lockt, aus denen die Damen kommen, die im Titel besungen werden. Auch hier ist Gänsehaut ein vermutlich gern gesehener Nebeneffekt – schaurig schön.

In jedem der 13 Stücke, seien es Neukompositionen von Andreas Wahl oder Bearbeitungen von Stücken spanischer Altmeister wie Juan Vásquez oder Diego Ortiz, gibt es ein kleines Detail oder eine ausgefeilte Klangidee, die es wert ist, gehört zu werden . So winden sich zum Beispiel in der dreiteiligen Instrumentalkomposition „Sanota Ogni Sorte I“ von Lee Santana ausnahmsweise mal keine Sopranmelodien durch die Takte. Im Gegenteil, die rhythmisch komplexen Gitarrenläufe von Andreas Wahl geben den Ton an und laufen der Vihuela –  in beidseitigem Einverständnis – den Rang ab.

Die Idee, zwei verschiedene Genres oder Musikstile unterschiedlicher Epochen zu vermischen, ist an sich nicht neu. Aber die Präzision, mit der diese bedrückend faszinierenden Kompositionen zwischen den Genres pendeln, beherrscht das Quartett absolut. Als würde ein riesiges Metronom sich zwischen den Genres und Instrumenten bewegen und mit jedem pendelnden Schlag würde man unnachgiebig in ein neues Genre gedrückt, ohne dabei aber aus dem Rhythmus zu geraten.
Das ist hingebungsvolle Musik, der man sich beim Hören am Besten selbst hingibt.  Ob man mit den Gedanken dabei zurück in die Vergangenheit reist oder sich in der Gegenwart befindet, ist jedem selbst überlassen. Möglich ist beides.

Fotocredits: 

Titelbild:  Dónde son estas serranas – Mysterious Songs of Love & Beauty / Carpe Diem Records

Bandfoto: Music from the acoustic neighbourhood / Facebook.com

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