Das Musiktheater im Revier wagt sich an die seltene Oper „Les Pêcheurs de Perles“ von Georges Bizet. Eine Premierenkritik von Ida Hermes.
Überall Plastik. Es hängt von den Wänden, Bahnen aus halbtransparentem Flatterzeug, wie auf einer Baustelle. Am Anfang schwimmt jemand dahinter herum. Sonnenstrahlen schimmern durch stille Wassertiefe, ein Scheinwerfer macht hinter dem milchigen Vorhang einen Taucher sichtbar. Langsam schwebt er herab, krault durch das Licht Richtung Meeresboden. Eine wunderbare Illusion für den Beginn der Oper „Die Perlenfischer“ von Georges Bizet.
Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen zeigt eine rekonstruierte Urfassung dieses Bizetschen Frühwerks, das so vielfach bearbeitet und so selten aufgeführt wird und wurde. Das Autograph des Komponisten gilt als verschollen – wie der Verlag Bärenreiter mitteilt, befindet es sich in Privatbesitz und wird vorerst nicht herausgerückt. In Gelsenkirchen verwendet man die jüngste und nach dem aktuellen Stand der Musikforschung auch präziseste Neuausgabe, die Hugh MacDonald vor vier Jahren vorgelegt hat, mit der originalen Instrumentation und dem erstmals ungekürzten Duett „Au fond du temple saint“ im ersten Akt, dem einzigen Wunschkonzertschlager, den man aus dieser Oper kennt.
Das berühmte Perlenfischer-Duett in ungekürzter Fassung.
Dem Regisseur Manuel Schmitt geht es allerdings ohnehin nicht um Werktreue, sondern darum, den Theaterraum zu öffnen für ein wenig politische Lebensrealität. In einem Stück, das eine Liebesgeschichte vor einer exotischen Kulisse des neunzehnten Jahrhunderts zeigt, möchte Schmitt Heutigkeit herstellen. Zunächst ganz plump und praktisch: Ein Sondereinsatzkommando mit schwarzen Helmen, kugelsicheren Westen, Schutzschilden und Schlagstöcken stürmt die Bühne von beiden Seiten. Sowas sieht man im Musiktheater in letzter Zeit ständig. Der Perlenfischerchor hat sich organisiert, ein Banner geschrieben. „I don’t die for your pearls!“ steht da in großen Lettern, dazu präsentieren die armen Ausgebeuteten Fotos ihrer verunglückten Kollegen. Das SEK beendet den Auflauf mit Tränengas.
Dann taucht Nadir auf. Er hat das Dorf vor vielen Jahren verlassen, nun kehrt er zurück, mit Smartphone, Fotoapparat und Hipster-Jäckchen. Die klassische Dreiecksgeschichte, die nun folgt, stellt Schmitt auch ganz klassisch dar. Nadir und sein Jugendfreund Zurga sind verliebt in die gleiche Frau, die Tempelpriesterin Leïla, die kraft ihres Amtes der Liebe entsagen muss, obwohl sie eigentlich in Nadir verliebt ist. Wie ein Wachsengel ohne Flügel, in einem Gewand aus zerrissener Arbeitskleidung und Plastikfetzen, steht sie da und betet für das Überleben der Taucher. In der Nacht, sie ist allein, dringt Nadir in ihre Gemächer. Sie schmachten einander an, werden erwischt.
Dongmin Lee singt die Leïla mit klarem Sopran, ihre Stimme klingt so ätherisch, als müsse sie das Kopfregister niemals verlassen. Alle Intervallsprünge gelingen ihr mit einer Mühelosigkeit, dass man nur darüber staunen kann. Und Stefan Cifolelli als Nadir, mit seinem hellen, marzipanweichen Tenor scheint vollkommen mit Leïlas Stimme zu verschmelzen. Ein tolles Liebespaar. Wunderschön.
Zwischen den Akten ist die Inszenierung auf einmal ganz woanders. Videos werden eingespielt mit Tagesschaubildern vom November 2018. Eine pakistanische Frau, projiziert auf die Plastikfolie, in Nahaufnahme, mit Tränen in den Augen, erzählt von ihrem kleinen Sohn, der bei einem Brand in einer Textilfabrik ums Leben gekommen ist. Da bricht die harte Realität ein in die Idylle aus lieblichen Geigentremoli, Flötensoli und Harfenakkorden. Passt das zusammen?
Jedenfalls sind die Opern-Perlenfischer keine in Textilfabriken der dritten Welt schuftenden Kinder. Und es geht auch weniger um die prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen einer niederen Kaste, eher darum, dass eine Frau von zwei Männern umworben und mit dem Luxusgut gleichgesetzt wird, für das letztere jeden Tag ihr Leben riskieren: der Perle. Herrliche Arien und Ensembles hat Georges Bizet dafür komponiert, lyrisch-exotische Melodien erfunden und fein instrumentierte Zauberklänge, die schimmern, wie die Taucher-Illusion zu Beginn des Stücks. Die Neue Philharmonie Westfalen unter Giuliano Betta ist eine äußerst anmutige Taucherin: zu berückenden Bläsersoli tritt ein Streicherensemble, das immer wieder zu akustischen Lichtreflexen verschmelzen kann, wie Perlmutt.
Die Bühne hat dieser Sehnsuchtsmusik nichts entgegenzusetzen. Selbst der Taifun, eine wilde Tempesta, die am Ende des zweiten Aktes über die Liebenden hereinbricht, kann die drehbaren Metallgerüste von Bühnenbildner Bernhard Siegl nur ein wenig dekonstruieren. Im dritten Akt gibt es dann eine Feuerkatastrophe, zumindest im Ansatz geht die Regie-Idee von der Textilfabrik mit dem Plot der Oper parallel. Der eifersüchtige Zurga, großartig verkörpert und gesungen von Piotr Prochera, schwört Rache für Leïlas Verrat, auch der Opernchor des Musiktheaters im Revier fordert Bestrafung, ein kraftvolles Kollektiv. Doch kurz vor der Hinrichtung von Leïla und Nadir besinnt sich Zurga, er verhilft dem Liebespaar zur Flucht und steckt zur Ablenkung gleich das ganze Perlenfischerdorf in Flammen. Ein Happy End, das über die dramatischen Konsequenzen eines Großbrandes großzügig hinwegsieht. Doch auch wenn das Regieteam nicht wegsehen möchte: Das Finale dieser Oper lässt sich nicht so einfach politisch umdeuten, auch wird dabei deren eigentliche Botschaft übersehen: dass Frauen keine Perlen sind. Für die herausragenden musikalischen Leistungen aber: Applaus!