Der polnische Unabhängigkeitstag am 11. November 2018 war in den Augen vieler Beobachter keine Glanzleistung: Die Feierlichkeiten wurden weitestgehend von rechtsnationalen Märschen der Regierung überdeckt, denen gleich darauf rechtsextreme Gruppierungen folgten. Patriotismus ist wieder „in“ geworden. Warschau sollte an diesem Tag Symbol für den Ausruf eines neuen, starken Polens sein. Ausgerechnet das junge Polen, das sich noch 2004 so geschlossen für den Beitritt in die Europäische Union aussprach. Damals herrschte Aufbruch im Land; die vergangenen Jahrzehnte voller Krieg und Trauer schienen vergessen. Seit in Polen wieder die Angst vor dem Fremden geschürt wird, hat sich die Stimmung gedreht. Polen driftet vom einstigen Vorbild des Ostens zur Autokratie.
Kritik unerwünscht
Der Kulturszene werden immer neue Steine in den Weg gelegt, um Kritik am Regierungsstil der PiS zu verhindern. Die Kritik an Kunstschaffenden geschieht dabei schon sehr direkt: Kabarettisten wie Antoni Szpak oder Klaudia Jachira werden für ihre satirischen Beiträge verklagt. Schon 2015 versuchte die PiS (zu deutsch: Recht und Gerechtigkeit) mit allen Mitteln, eine Theateraufführung in Breslau zu verhindern, die ihrer Ansicht nach zu obszön war. In einer Aufführung von Elfriede Jelineks „Der Tod und das Mädchen“ des Teatr Polski sollte ein Pornodarsteller eine Szene beflügeln. Unklar bleibt, ob tatsächlich geplant war, dass zwei Bühnenschauspieler in sexuelle Handlungen verfallen sollten. Das Theater dementierte dies. Der Kulturminister Piotr Gliński wollte ohne rechtliche Grundlage einen Stopp der Inszenierung erzwingen. Gelungen ist ihm das zwar nicht, aber eine Gruppe erzkatholischer Demonstranten stellte sich bei der Premiere den Theaterbesuchern in den Weg. Die Spaltung des Landes wurde an einem Theaterstück sichtbar. Mittlerweile ist der unliebsame Intendant Krzysztof Mieszkowski entfernt. Eine polnisch-deutsche Theaterproduktion namens „Hymne an die Liebe“ musste 2017 ihre geplante Aufführung im Rahmen eines Festivals wegen Einstellung staatlicher Fördermittel absagen. Seit die PiS die absolute Mehrheit im Parlament hält, gab es etliche solcher Angriffe auf die freie Ausübung von Kunst und Kultur in Polen. Dabei ist die PiS mit ihren Aktionen keineswegs bei allen unbeliebt: Der Großteil der Bevölkerung hat sie gewählt und ein nicht zu unterschätzender Teil unterstützt ihre Politik bis heute. Auch aus den letzten Kommunalwahlen im Oktober geht die Partei gestärkt hervor (s. Grafik „Wybory samorzadowe 2018“).
Neue Gegenkultur von Kulturschaffenden
Der Kampf wird auch auf der Straße ausgetragen: PiS-Anhänger und Unterstützer des Komitees zur Wahrung der Demokratie in Polen (KOD) stehen sich immer wieder unversöhnlich gegenüber. Überall an diesem 11. November sorgt man sich anhand der Lage in Polen nun darüber, was aus dieser jungen Demokratie nach nur vierzehn Jahren geworden ist.
Überall? Nein, der NDR und eine Handvoll polnischer Künstler leisten vehement Widerstand. Mit einem Konzert wollten sie in die Offensive gehen. Sie haben den polnischen Unabhängigkeitstag in der Hamburger Elbphilharmonie gefeiert – in ganz anderen Tönen. An dem Experiment waren der polnische Dirigent Krzysztow Urbański und die Solisten Piotr Anderszewski und Jan Lisiecki beteiligt. Vom 16. bis zum 25. November eröffneten sie mit dem NDR gemeinsam das „My Polish Heart“. Es sollte ein Festival zur Feier der polnischen Unabhängigkeit werden. Dem NDR ging es laut eigener Aussage um eine Verneigung vor dem Kulturland Polen, denn die hochwertige Kulturlandschaft des Landes soll in der aufgeheizten Debatte nicht in Vergessenheit geraten. Und so bot das Festival allerlei polnisches Kulturgut – vom Komponisten mit Weltruhm aus Warschau (Chopin) bis hin zu hierzulande unbekannteren Musikern wie Krzysztof Penderecki (Vorreiter der postseriellen Musik) oder Witold Lutosławski (Dirigent in Zeiten des Zweiten Weltkrieges).
© Florian Rendchen
Auch auf das Genre hat man sich nicht festgelegt: Von Jazz über Chormusik bis hin zu Klavierstücken war alles zu hören, was die Welt der polnischen Musik zu bieten hat. Dieses Repertoire ist so reichhaltig, dass die Veranstalter gleich eineinhalb Wochen Festival mit Material füllen konnten. Hier ging es vorrangig auch gar nicht um die politischen Spannungen in Polen. Im Mittelpunkt standen einzig und allein die Komponisten.
Stolz ohne Reue
Stolz für ihr Land fühlen seit jeher auch die Litauer, die ihre Straßen gerne aufwendig mit der eigenen Flagge schmücken. Die Litauer machen keinen Hehl daraus, froh um ihr Land zu sein, wenngleich sie sich ständig vom Nachbarstaat Russland bedroht fühlen. (Diese Erkenntnis gewann der Autor des Textes aufgrund eigener Erfahrungen in diesem Land.) Das kleine EU-Land an der Grenze zu Russland hat auch allen Grund zur Zusammenarbeit. Weil es sich politisch nicht nach Osten orientiert, setzt man auch in Zukunft auf eine starke EU. Die Hundertjahrfeier in diesem Jahr war dort dennoch ein Zeichen des litauischen Zusammenhalts, über schwierige Zeiten hinweg.
© Florian Rendchen
Kunst und Kultur suchen Gemeinsamkeiten statt Spaltung
Vielleicht ist das die Botschaft, die von Beispielen wie „My Polish Heart“ oder den litauischen Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag ausgeht: Eine gemeinsame Kultur zu haben, ist gar nicht verwerflich – solange wir sie zugänglich halten und uns nicht in politischen Grabenkämpfen aus den Augen verlieren.