Warum ästhetisch im Tanzhimmel schweben, wenn man in der Techno-Hölle abfeiern kann? Choreograph Richard Siegal betäubt bei der Ruhrtriennale sein Publikum mit einer Tanzperformance voll LEDs und Lautstärke, aber was wartet dahinter? Eine Kritik zur Uraufführung von “Model”.
Harte Bassschläge zu Beginn, dann soll es wieder still sein. Stattdessen knistern dutzende Plastiktüten von Premierenbesuchern, die verzweifelt versuchen ihre Hörschutzpfropfen im dunkeln herauszufummeln. Denn es dröhnt wirklich laut im alten Salzlager der Zeche Zollverein. “Metric Dozen” heißt das Siegal-Stück im ersten Teil des Abends, eine mathematische Spielerei für Tänzer, die elektro-akustische Musik dazu stammt vom Komponisten Lorenzo Bianchi Hoesch.
Ein Lichtkegel versucht eine Tänzerin in Szene zu setzen. Sie entkommt immer wieder in den Schatten. Mehr Tänzer, vom Bayrischen Staatsballett und aus Siegals eigenem Ensemble “The Bakery”, treten in silbrigen Weltraumoberteilen auf, machen Side-Steps und marschieren rückwärts.
Dazu tönt es aus den Boxen, als würden 50 Kassiererinnen im Akkord Waren über einen besonders lauten, aggressiven Scanner ziehen. Später wird daraus ein Techno-Discobeat, dazu wird dann beinah klassisch anmutend getanzt, in Paaren und allein als Pirouette. Es gibt wenig Entspannung, immer wieder Verdichtung und die nächste pochende Basseruption.
Nachdem man sich in der Pause mit Nachos und Käsesoße für die zweite Hälfte der Blockbusterperformance (ein Schild warnt vor ausgiebigem Stroboskoplicht) gestärkt hat, beginnt die Uraufführung von „Model“ verhalten und gerade deshalb aufregend: Der Raum ist nun offener, der Lichteinsatz lässt die Tänzer oft zu Silhouetten werden, die in mystischer Weise herumkreiseln. Sie interagieren, scheinen sich zu würgen, immer wieder winden sich Menschen auf dem Boden. Es geht um die Bestrafung des Körpers, Buße und Dantes Inferno, das wird deutlich, schließlich läuft nun im hinteren Teil der Halle auch ein LED-Schriftband mit entsprechendem Text. Der Ruhemoment ist schnell verflogen, es folgt ein Wummern aus den Boxen, als würde die gesamte Bergbaumaschinerie Zollvereins erwachen. Zuckende Körper und Geschrei- die Hölle als Industriedisco.
Viel Lärm um Nichts? Zumindest der elektronisch-dumpfe Soundtrack ist allzu gleichförmig, klingt selten erinnernswert und lullt trotz Lautstärke eher ein. Die punktgenauen Bewegungen der Tänzer beeindrucken dagegen, besonders in den Momenten in denen sie losgelöst vom Bassgewitter ihr Marionettendasein aufgeben.
Wenn am Ende unmenschliche Schreie ertönen und ein einzelner Schemen zu Basssalven wie Gewehrfeuer im Blitzlicht zusammenbricht wird klar: Genauer möchten wir die hier gemalte Hölle auch gar nicht kennen lernen. Die Sinnesschmerzgrenze ist erreicht.
Einen Einblick in eine frühere Richard Siegal-Produktion, ebenfalls mit dem Bayrischen Staatsballett.