„Popmusik ist anspruchsloser Einheitsbrei“.
Alternativ: „Pop ist lahm“.
Diese Meinung findet sich nicht ausschließlich unter Klassikbegeisterten aus unserer Großelterngeneration, sondern hatte in meiner Teenagerzeit auch in den Kreisen von Subkulturen mit rebellischem Selbstverständnis Hochkonjunktur. Auch ich habe mich zeitweise als Connaisseur wirklich guter Musik verstanden und versucht, mich vom meiner Meinung nach uninteressanten Mainstream abzugrenzen. Es hat mich beinahe empört, dass sich so viele Musikhörer*innen trotz all der weit kreativeren musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten mit derart unoriginellem Gewäsch zufriedengaben.
Selbst wenn sich nicht jede*r von euch in dieser Haltung wiedererkennen kann, so wärt ihr möglicherweise damit einverstanden, dass einer größeren Menge populärer Musik das Label der Beliebigkeit nicht völlig zu Unrecht anhaftet. So vielfältig die unterschiedlichen Stile sind, die sich unter dem Schirmbegriff Popmusik vereinen: Gewisse Gemeinsamkeiten sind nicht von der Hand zu weisen.
Der Four-Chord-Song der Comedy-Musikgruppe Axis of Awesome hat pointiert gezeigt, dass eine ganze Menge kommerziell erfolgreicher Poplieder auf der gleichen Abfolge vier simpler Dur- und Moll-Akkorde basiert. Ganz schön billig, nicht wahr?
Meine Antihaltung hatte sich trotzdem schnell erschöpft. Spätestens als ich Kelly Clarkson verfallen war, verlor ich jegliche Kredibilität als Musiksnob. Außerdem wurde mir klar, dass der Begriff „Pop“ so viele verschiedene Stile unter seinem Schirm vereint, dass es nicht unbedingt sinnvoll ist, ihn als völlig homogene musikalische Sphäre zu verstehen.
Es ist trotzdem nicht verwunderlich, dass viele Popsongs eine ähnliche Stimmung erzeugen, denn das Tonmaterial, welches die musikalischen Modi Dur und Moll zur Verfügung stellen, bestimmt elementar den klanglichen Charakter der Musik. Im Blick auf Musiken mit modalen Prinzipien, die sich jenseits der Dur-Moll-Tonalität bewegen, wird besonders deutlich, dass der modale Charakter westlicher Popmusik nicht einfach ein neutraler ist. Er grenzt sich von anderen modalen Systemen ab, welche teilweise auch in Europa in irgendeiner Form mal gängig gewesen waren. Musik aus dem arabischen Raum ist zum Beispiel oft im Modus Phrygisch komponiert. Letztlich setzte sich mit dem Ende des Mittelalters die Dur-Moll-Tonalität durch und bestimmte die nachfolgenden Epochen der europäischen Musikgeschichte grundlegend.
Sofern ihr das nicht schon wusstet: Dur und Moll gehörten im Mittelalter zusammen mit fünf anderen Modi (u.a. Phrygisch) zu den Kirchentonarten, denen allen dasselbe Ordnungssystem zugrunde liegt. Eigentlich sind es sogar 13, beziehungsweise 16 Tonarten, aber das zu erklären würde an dieser Stelle zu theoretisch werden.
In meiner Beatles-Phase merkte ich, dass viele dieser scheinbar vergessenen Tonarten doch weit häufiger popmusikalische Verwendung finden als mir zuvor bewusst war. Das Argument, dass Pop also musikalisch immer gleich einfalls- und anspruchslos ist, war also auch hinfällig. Mit der Zeit entdeckte ich immer mehr interessante musikalische Mittel in populären Musiken.
In der kleinen Playlist, die ich zusammengestellt habe, fällt jeder Song zumindest in Teilen aus der Dur-Moll-Tonalität heraus. Wie ihr merken werdet, habe ich eventuell ein wenig geschummelt: Die meisten Songs waren nie in der Hot Rotation, einige sind nicht mal radiotauglich. Trotzdem waren die meisten kommerziell erfolgreich und können mit Fug und Recht als Populärmusik bezeichnet werden. Musikhistoriker*innen dürfen mir jetzt einen schwammigen Begriff von Popmusik vorwerfen, aber damit kann ich leben. Auf geht’s!
Nirvana – Heart-Shaped Box
Dieser Song ist eigentlich in As-Moll, enthält jedoch in der Gesangs- und Gitarrenmelodie eine spannungsreiche Tonfolge, die für die Kirchentonart Dorisch charakteristisch ist. Dorisch ist eine mollähnliche Tonart, die für mich etwas hoffnungsvoller als das reine Moll (auch Äolisch genannt) klingt und diesem Song eine besondere Note verpasst.
Kelis – Milkshake
Ein tolles Beispiel, weil dieser Song kommerziell total erfolgreich war, obwohl er musikalisch ziemlich abgefahren ist. Er ist durchweg in der Tonart Phrygisch komponiert und bedient sich ziemlich cooler synthetischer Sounds. Phrygisch ist, wie schon angesprochen, in der arabischen und indischen Musik besonders prominent.
Ramy Sabry – Khaleny Ashofak Tany
Dieser Song des ägyptischen Popsängers Ramy Sabry ist ein passendes Beispiel für nichtwestliche Popmusik, die nicht Dur-Moll-konform ist, sondern sich ebenfalls dem phrygischen Modus bedient. Im arabischen Raum trägt sie den Namen Hijaz Kar.
Björk – Army of Me
Army of Me ist ein sehr interessanter Song, denn er ist teilweise im Modus Lokrisch. Dabei handelt es sich um eine Kirchentonart, die selbst in Zeit der kirchentonalen Ordnung im Mittelalter eigentlich nicht verwendet wurde, weil sie als einzige dieser Tonarten keine reine Quinte enthält. Dementsprechend dissonant klingt auch die Gesangsmelodie und Synth-Line im Vers.
Lorde – Royals
Ich behaupte kühn, dass die Verwendung der mixolydischen Tonleiter den Reiz dieses Songs ausmacht. Sie klingt für meine Ohren wie die etwas seltsame, aber liebenswerte Schwester von Dur.
Elliott Smith – Waltz #1
Dieser Song hat einen durchweg mysteriösen Unterton, der der lydischen Kirchentonart geschuldet ist. Sie wird oft als seltsam bis unheimlich wahrgenommen. Besonders deutlich ist sie ab dem Einsatz des Gesangs zu hören.
Muse – Stockholm Syndrome
Das Einstiegsriff der Gitarre, das im Laufe des Songs immer wiederkehrt, folgt der phrygischen Tonart, löst sich aber unbemerkt in klassisches Moll auf. Songs wie diese, die also ein harmonisch konventionelles Grundgerüst in bestimmten Partien um außergewöhnlichere Modi erweitern, gibt es gerade in der Rockmusik recht häufig.
Björk – Pluto
Hurra, wieder ein Björk-Song! Natürlich wäre es leicht, Björks Musik aus der Pop-Kategorie auszuschließen, weil sie im Laufe der Zeit deutlich experimenteller wurde. Ich würde eher behaupten, dass sie das beste Beispiel dafür ist, dass es möglich ist, zugleich den Rahmen des Genretypischen zu sprengen ohne an Pop-Sensibilität und Eingängigkeit einzubüßen. Was genau bei Pluto in tonaler Hinsicht so abgeht, das habe ich selbst noch nicht ganz verstanden.
Die letzten beiden Titel sind mehr ein Bonus. Radioheads Faust Arp verlässt die Dur-Moll-Tonalität nicht, ist aber trotzdem harmonisch ziemlich anspruchsvoll. Und Meshuggah musste ich einfach hinzufügen. Soul Burn ist ein klasse Beispiel für die häufige Verwendung des lokrischen Modus und Atonalität im Metal. Viel Spaß damit!
Natürlich ist der tonale Modus nicht das einzige Kriterium, wenn es um die Wirkung eines Songs geht. Aber vielleicht ist es gerade deshalb eine wertvolle Erkenntnis, dass auch Popmusik sich vieler verschiedener musikalischer Mittel bedient und oft gar nicht so simpel und austauschbar ist, wie es ihr nachgesagt wird. Es gibt einiges zu entdecken.
P.S.: Sorry, dass ich die Beatles nicht in die Playlist mit aufgenommen habe. Sie sind klasse, ohne Frage. Aber sie wären dem elitären Teenager in mir eine zu offensichtliche Wahl gewesen.
Bildcredits:
Beitragsbild: Danger due to shitty pop music / Mary Crandall / flickr.com / CC BY-NC-ND 2.0