Eine meiner prägendsten Erfahrungen mit einem Video- bzw. Computerspiel ist für mich mit großer Frustration behaftet. Es war Monkey Island 2 und ich konnte es nicht bis zum Ende durchspielen, weil ein Freund meines Bruders die Diskette geschrottet hatte. Ja, richtig, die Diskette – lang ist’s her, aber das Trauma sitzt tief.
Jetzt sitze ich im Kinosaal des Filmforums NRW in Köln. Bei einer Weltpremiere. Das Ensemble des Künsterkollektivs gRoBA unter der Leitung von Rodrigo Lopez Klingenfuss spielt den Soundtrack des Videogames Stories – The Path of Destinies erstmals als Live-to-Game Konzert: Während ein Spieler das Spiel auf der Bühne spielt, passt das Ensemble die Musik den Handlungen des Spielers an. Das klingt nach einer enormen Herausforderung für alle Beteiligten und dementsprechend gespannt bin ich, was an diesem Abend passieren wird. Das Ganze findet im Rahmen des SoundTrack_Cologne statt, einem Kongress für Musik und Ton in Film, Fernsehen, Games und Medien.
Los geht es mit einer Begrüßung durch die beiden Komponisten FX Dupas und Mathieu Lavoie von Vibe Avenue. Sie präsentieren das Spiel und gestalten eine kleine Konzerteinführung: Mit der Unterstützung des Ensembles werden verschiedene Leitmotive vorgestellt und darauf hingewiesen, wann diese im Spielverlauf zu hören sein könnten. Außerdem wird zwischen Erkundungsmodus und Kampfmodus in der Musik gewechselt. Der Dirigent muss auf das Spiel achten und gegebenenfalls das Zeichen zum Angriff in der Musik geben: Eine Faust in der Luft. Dann müssen die Musiker zur Kampfmusik springen, dafür sind immer beide Versionen auf den Notenblättern abgedruckt.
Es ist vermutlich hilfreich, wenn ich an dieser Stelle ebenfalls eine kleine Einführung einschiebe, und zwar zum Spiel selbst: Stories – The Path of Destinies ist ein Action-Roleplaying Game, in dem die Spieler*innen in die Rolle eines Spielcharakters schlüpfen. In Stories ist es der anthropomorphe Fuchs Reynardo. Ohne es zu beabsichtigen, wird er Teil einer Rebellion gegen einen Imperator, der ein gewaltsames Unterdrückungsregime führt. Ein magisches Buch zeigt ihm in bestimmten Situationen Entscheidungsmöglichkeiten auf. Reynardo beziehungsweise der Spieler/die Spielerin entscheidet und je nach Wahl ergeben sich so unterschiedliche Pfade und Spielverläufe. Insgesamt gibt es 25 verschiedene Möglichkeiten, wie das Spiel endet. „And in 24 of them you die.“ verkündet Lavoie fröhlich. Zwischendurch muss der Held natürlich noch kämpfen, in diesem Fall gegen die bösen Raben des Imperators.
Am laufenden Band werden also Entscheidungen gefällt, die eine Spielveränderung nach sich ziehen. Muss dann etwa…? Ja, genau, die Musik ändert sich, je nachdem, welche Charaktere involviert sind, in welcher Umgebung man ist, welche Entscheidungen man trifft und ob gekämpft wird. Die Musik reflektiert auch, ob die Entscheidung zum Beispiel von Böswilligkeit, Liebe oder Heldentum motiviert war. Das klingt wahnsinnig komplex und ich frage mich an dieser Stelle, ob ein 18-köpfiges Ensemble überhaupt so flexibel reagieren kann. Aber: Ganz so spontan muss das Ensemble dann doch nicht reagieren. Um dem Publikum eine Bandbreite an musikalischen Variationen zu bieten und den Zeitrahmen auf Konzertlänge zu begrenzen, wurde im Vorhinein festgelegt, welchen Entscheidungsweg der Spieler gehen wird. Trotzdem bleibt immer noch genug, auf das flexibel reagiert werden muss. Die beiden Komponisten nehmen ihre Plätze im Orchester ein – FX Dupas am Keyboard, Mathieu Lavoie an den Flöten – und es geht los!
Zunächst fühle ich mich tatsächlich wie in einem Filmmusikkonzert. Auf der Leinwand wird eine Geschichte erzählt und das Ensemble liefert die passende Musik dazu. Folkige Flötenklänge, treibende Rhythmen zu düsterer Dramatik, mysteriöses Flirren und verspielte Triller. Gelegentlich erinnert es mich an eine Mischung aus Game of Thrones und Fluch der Karibik.
Der Spieler steuert Reynardo durch die Kapitel, der Dirigent manövriert das Ensemble hochkonzentriert durch die Szenarien. Da ich nicht weiß, wie die Übergänge und Variationen in der Musik im Spiel selbst gestaltet sind, kann ich nicht beurteilen, ob alles so klappt, wie es soll. Es wirkt organisch und überzeugend.
Beim Workshop zum Konzert am nächsten Tag fragt Lavoie, ob jemand gehört hätte, wie sie an einer Stelle alle völlig verloren waren. Nach ein paar Takten des Improvisierens und mimischen Anweisungen des Dirigenten fingen sie den Abschnitt einfach von vorne an. Niemand hatte es bemerkt. Tatsächlich gibt es andere Stellen, in denen die Instrumentierung und die Noten nicht festgelegt sind, in denen die Musiker frei improvisieren können. So ist auch jede Performance anders, die Musiker transformieren die Musik, experimentieren mit ihr und liefern den Komponisten so auch neue Inspiration.
Zwischendurch habe ich den Eindruck: Nicht nur die Musiker reagieren auf den Spieler, auch der Spieler reagiert auf die Musiker. Es wirkt so, als ob er gelegentlich im Rhythmus Fässer zerschlägt oder kämpft. Ebenso scheint er an einigen Stellen auf die Musik zu warten, den Dirigenten zu beobachten, um dann zum Beispiel auf den ersten Schlag des nächsten Takts ein Tor zu öffnen.
Er bestätigt diesen Eindruck am nächsten Tag: Er ist selbst Musiker und könne manchmal gar nicht anders, als seine Bewegungen mit der Musik zu synchronisieren. Er höre zu und wähle Übergänge an Stellen, die in der Musik organisch möglich sind, versuche, „musikalisch zu spielen“. Der Spieler wird zum Ensemblemitglied, zum Musiker.
An einer Stelle sagt der Erzähler im Spiel, dass Reynardo – erschöpft und frustriert – überlegt aufzugeben. Aber: „Er hasste es, mittendrin aufzugeben, das war sein Makel, er wollte immer herausfinden, wie es endet.“ Einige der Zuschauer teilen diesen Charakterzug offenbar nicht, sie verlassen frühzeitig den Saal. Auch ich empfinde zwischendurch Längen, aber ich will auch wissen, wie es ausgeht!
Es ist natürlich ungewohnt: Auf einem Game-Soundtrack ist die Musik in einer Art aufbereitet, die man zu hören gewohnt ist, aber nicht so, wie man sie beim Spielen mit all ihren Wiederholungen, Variationen etc. hören würde. Dies ist hier anders: Hier hört man – wenn auch ein wenig nachgeholfen wurde, um Eintönigkeit zu vermeiden – die Musik im Spiel. Die Musik wird in dem Kontext präsentiert, für den sie geschrieben wurde. Als der x-te Wechsel in den Kampfmodus ansteht, ertappe ich mich dabei, wie ich abschweife. Aber: Warum gehe ich überhaupt davon aus, dass hier Musik präsentiert wird? Lässt mich die Anordnung „Musiker auf der Bühne, Publikum davor“ sogleich die Erwartungshaltung einnehmen, die ich bei dem Ereignis „Konzert“ einnehme? Geschieht hier aber nicht etwas anderes?
Mathieu Lavoie sagt, Live-to-Game Konzerte macht sonst kaum einer. Er und Dupas haben es erstmals vor zwei Jahren in Chicago beim CIMMFEST ausprobiert, bis heute gab es etwa 10 Performances. Es ist ein neues kulturelles Format, das sich noch findet. Andere etablierte Formate, die wir heute kennen, sind über Jahrzehnte oder Jahrhunderte gewachsen. Es ist nach wie vor experimentell. Und Dupas und Lavoie haben etliche Ideen im Kopf, die Umsetzung zu verbessern.
Die Einführung vom Anfang im Kopf denke ich darüber nach, für wen diese Performance intendiert ist. Mal unabhängig davon, dass im Publikum viele Kongressteilnehmer sitzen, die sich mit beiden Bereichen – Gaming und Musik – auskennen, scheint für mich das Konzept hier eher so angelegt, dass Gamern nahegebracht wird, was es mit der Musik auf sich hat. Es hat also Potential zur Musikvermittlung. Genauso hat es aber auch Potential zur Game-Vermittlung. Es wäre durchaus eine Überlegung wert, denjenigen, die keine Ahnung vom Gaming haben, auch eine Einführung zu geben. Ich bin etwas vertraut mit Videogames und habe mir das Spiel im Vorfeld angesehen. Trotzdem liefen die Aktionen, Entscheidungen und Übergänge recht fix ab – da ist es für den ungeübten Zuschauer schwierig, alles mitzubekommen und zu verarbeiten. Das Format hätte also auch Potential für die Vermittlung kultureller Phänomene in alle Richtungen. Es bleibt spannend: Vieles ist denkbar, vieles kann ausprobiert werden, die Freiheit, unabhängig zu experimentieren ist hier, in den Anfängen, noch gegeben.
Dupas und Lavoie haben auch die Musik zum Spiel Ultimate Chicken Horse komponiert, die eher funky ist, und das nächste Live-to-Game-Projekt beinhaltet Rock und Heavy Metal. „We got doped on these concerts.“ Auch wenn sie dafür (noch) nicht bezahlt werden, planen sie weitere Dynamic Concerts. Die Verbindung zu den Musikern, die neuen Ideen, die beim gemeinsamen Spielen – dem musikalischen und virtuellen – entstehen, sind für sie wertvolle künstlerische Impulse.
The Path of Destinies: Welchen Pfad wird das Live-to-Game Event nehmen? Dupas und Lavoie hoffen, dass sie viele Leute dafür interessieren können und sind sehr gespannt, wie sich die Form weiterentwickeln wird. Ich auch.
Mein Trauma hat sich übrigens nicht gelöst, im Gegenteil. Am Ende des Abends ist Reynardo tot, das Spiel geht von vorne los, andere Entscheidungen müssen getroffen werden. Der Button „Continue Game“ leuchtet grün, dann verstummt das Orchester und der Bildschirm wird schwarz. Wie es ausgeht? Ich weiß es schon wieder nicht!
Fotocredits
Beitragsbild: Creative Commons /PlayStation Europe/ flickr.com/ CC BY-NC 2.0