Das Beethoven Orchester und der Philharmonische Chor der Stadt Bonn haben zum Karfreitag Antonín Dvořáks Stabat Mater aufgeführt. Ein ganz besonderes Werk, findet Ida Hermes.
Ein F. Es beginnt in den Celli, Bratschen, Hörnern, steigt nach oben, ganz leise, immer in Oktaven. Violinen, Oboe, Klarinette. Klangfarben, die intensiver werden, an- und abschwellen, um dann als gleißendes Licht den Himmel zu erhellen. Suchend scheint es bis in die Ecken des Firmaments. Doch nichts. Überall Leere. Raum und Zeit sind erstarrt. Und allmählich, ganz langsam, verschwimmt der Schein. Löst sich vom Dunkel und rinnt herab, wie eine Träne, Halbton für Halbton. Ein allzu harter Gang.
Dirk Kaftan steht am Dirigentenpult und hat seine Muskeln aufs Äußerste angespannt. Es ist vermeintlich nur ein F – und doch scheint es, als habe sich der Schmerz allen Lebens in diesem einen Ton vereinigt. Wer könnte da noch atmen? Die Musiker des Beethoven Orchesters Bonn starren voller Anspannung auf ihren Dirigenten. Auf den ersten Blick ist Dvořáks Stabat Mater ein einfaches Stück, doch im musikalischen Ausdruck offenbaren sich seine Tücken. Endlich gibt Kaftan den Einsatz, und die Saiten beginnen zu zittern, die Lippen zu beben. Oktave um Oktave, dann die qualvoll absteigende Chromatik, mit der das Thema einsetzt. Jeder Ton ein Drahtseilakt. Stabat – mater – dolorosa. Die Tenöre des Philharmonischen Chors Bonn singen diese Worte voller Ruhe und auch das Spiel der Orchestermusiker beruhigt sich ein wenig. Nur Dirk Kaftan kann noch immer kaum atmen. Mit ausladenden Gesten modelliert er jeden Ton, denn es soll alles perfekt sein. Und aller Anfang fällt heute schwer. Erst im Verlauf des Konzertes gelingt es dem Dirigenten, sich vom Detail zu lösen und die nötige Spannung für die großen Linien herzustellen, die in diesem Stück so wichtig sind.
Bonns neuer Generalmusikdirektor macht es sich nicht leicht. Vor jedem Konzert spricht er in Konzerteinführungen zu seinem Publikum, organisiert weit im Voraus neue Veranstaltungsorte, denn die Beethovenhalle steht wegen Renovierungsarbeiten in den kommenden Jahren nicht zur Verfügung. Und heute, am Karfreitag, möchte Dirk Kaftan auch noch eine Aufgabe bewältigen, an der die christlichen Kirchen seit vielen Jahren scheitern: Die Trauer über den Tod Jesu Christi zurück in die Herzen der Menschen zu bringen. Abhilfe soll Dvořáks Stabat Mater leisten, das der Tscheche im Andenken an seine viel zu jung verstorbenen Kinder komponierte. Eine Musik von solch überwältigendem Weh, wie es in der Kunst vielleicht nur Michelangelo mit seiner Pietà in Marmor zu verewigen vermochte.
O quam tristis et afflicta / Fuit illa benedicta / Mater unigeniti!
Welch ein Schmerz der Auserkor‘nen, da sie sah den Eingebor‘nen, wie er mit dem Tode rang. Sonja Šarić schließt die Augen. Aufrechtes Leiden steht der jungen Sopranistin ins Gesicht geschrieben, und sie ist hochkonzentriert. Unter den vier Solisten steht ihre Stimme ganz besonders heraus. Mühelos in jeder Lage, dabei immer im vollen Bewusstsein der Worte, die sie da singt. Voll innigem Ausdruck aber auch Dshamilja Kaiser (Alt), Christian Georg (Tenor) und Martin-Jan Nijhof (Bass). Ein Solistenensemble, das aufeinander reagiert, Einklang sucht und in den richtigen Momenten Einzelstimmen hervortreten lässt. Der Philharmonische Chor versteht es, diese individuelle Ausdruckskraft auf das Kollektiv zu übertragen. Ob als geisterhafte Kinderstimmen im Fac, ut ardeat oder sanfte Fürbitte Virgo virginum. Hier offenbart die Musik ihre Zauberkraft: Sie überbrückt jede Distanz und Grenze, macht erlebbar, was auf dem Papier im Abstrakten bleibt. Solche wundersamen Augenblicke brauchen Raum. Sie lassen sich erfühlen und hervorlocken, doch niemals planen. Auch wenn man jeden Ton noch so sorgfältig poliert.
Beitragsbild Pietà: