„Das Leben jedes Einzelnen ist eine Welt im Kleinen, selbst das einfachste und von Stürmen wenig getrübte, bietet so mannichfaltige Abschnitte dar, worauf man bald in Liebe, bald in Dank, bald in Trauer weilt, dass es wohl kaum nöthig sein dürfte, hierauf besonders aufmerksam zu machen.“
Diese Worte schreibt Johann Christian Heinrich Rinck im Vorwort seiner Selbstbiographie von 1833. Die ganze „Welt im Kleinen“ seines Lebens kann hier natürlich nicht in seiner „Mannigfaltigkeit“ dargestellt werden, aber einige Blicke können auf seine Welt im Großen und Ganzen geworfen werden.
Nach eigener Aussage erhält Rinck vor seinem 13. Lebensjahr keinerlei Musikunterricht, ausgenommen das Singen in der Schule, welches er dort, wie er sagt, „mechanisch erlernte“. Sein Vater, ein Schullehrer, der auch selbst Klavierunterricht gibt, erkennt aber ein Talent und unterrichtet schließlich auch seinen eigenen Sohn. Am Notenlernen und Spielen hat dieser sichtliche Freude:
„Besonderes Vergnügen gewährte es mir nun, wenn ich allein am Clavier saß, Terzen und Sexten aufzufinden und dieselben zu Papier zu bringen.“
Bereits ein Jahr später geht er beim Schullehrer Abicht in die Lehre und erhält Orgelunterricht. Das erste Orgelpräludium, das er lernt, fängt mit einem Pedal-Solo an, das den kleinen Rinck vor besondere Herausforderungen stellt:
„Ich war damals noch sehr klein von Gestalt; mein Vater musste sich deswegen zu mir setzen und mich halten, während ich das Pedal-Solo spielte, damit ich nicht von der Orgelbank herunter auf das Pedal fiel.“
Nach weiterer Ausbildung bei diversen Lehrern, kann J.C.H. 1786 nach Erfurt gehen, wo er von J.C. Kittel, einem der letzten Schüler von J.S. Bach, unterrichtet wird. (Der berühmte Organist und Komponist Kittel verdiente übrigens nur 120 Reichstaler im Jahr – zum Vergleich: G.A. Schneider verdiente ca. zur gleichen Zeit 300 – und musste sein Leben lang von morgens bis abends unterrichten, um über die Runden zu kommen, aber das nur am Rande.).
Nach vier Jahren bei Kittel, wird Rinck 1790 als Stadtorganist in Gießen angestellt. (In seiner Selbstbiographie klagt auch er über sein geringes Gehalt. Auch er muss nebenbei unterrichten und seinen Lohn durch „Abschreiben für Rechtsgelehrte“ aufbessern.) Mehr noch als seine schlechte Finanzlage stören ihn aber die Hindernisse, die ihn in seiner künstlerischen Weiterentwicklung hemmen, da er „nie Gelegenheit hatte, die großartigen Werke unserer bedeutendsten Meister zu hören, ja nicht einmal zu sehen“. Einmal in den 15 Jahren in Gießen ist es ihm möglich, eine Partitur einzusehen – Mozarts Requiem – und es schmerzt ihn sehr, als er sie wieder zurückgeben muss.
Das Jahr 1805 verbessert seine Lage erheblich, finanziell und künstlerisch: Er wird zum Stadtorganisten, Kantor und Musiklehrer sowie Examinator der Schulkandidaten und Mitglied der großherzoglichen Hofkapelle in Darmstadt berufen. Als Darmstadt ein Jahr darauf zur Residenz des Großherzogtums erhoben wird, wird Rinck noch einmal befördert: vom Stadt- zum Hoforganisten. In Darmstadt schreibt und veröffentlicht er auch seine damals wie heute berühmte Praktische Orgelschule op.55, in der er 125 Werke vereint, die sowohl stilistisch als auch bezüglich des Schwierigkeitsgrads eine breite Palette abdecken: vom einfachen Satz für den Organisten, der einen Gottesdienst begleiten muss, bis zum anspruchsvollen Konzert. Von einer großen Zahl von Lesern verschlungen wird auch sein Choralfreund, eine alle zwei Monate erscheinende Ausgabe, in der Rinck alle zu der Zeit gesungenen Choräle in verschiedenen Variationen veröffentlicht.
Der Großteil seines Werkes ist in der Tat der Orgel gewidmet, allein seine Prä- und Postludien sowie die Choralvorspiele, Variationen u.a. erreichen eine vierstellige Zahl, aber er komponiert während seines Lebens auch Vokal-, Klavier- und Kammermusik, einige Konzerte und auch Bühnenwerke, deren Aufführungen allerdings nicht nachzuweisen sind.
Neben seiner Tätigkeit als Organist und Komponist, ist er vor allem auch Lehrer mit Leib und Seele. Sogar seine Selbstbiographie ist noch pädagogisch angelegt, großer Raum wird seiner eigenen Lehrzeit eingeräumt, Bildung und Weiterentwicklung stehen im Vordergrund, von seiner Karriere in hohen Ämtern und anderen Errungenschaften spricht er nicht – anspruchslose Bescheidenheit ist einer der Charakterzüge, der ihm immer wieder attestiert wird. Dabei spielte er eine äußerst bedeutende und einflussreiche Rolle in der evangelischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts. Seine Kompositionen und Zusammenstellungen förderten die Kirchenmusik und ihre Musiker und setzten Normen. Und was schreibt der bescheidene Rinck selbst als Rückblick auf sein Leben?
„Eine zufriedene Familie, zahlreiche Freunde und manche Beweise, daß meine bisherige Thätigkeit nicht ganz wirkungslos geblieben, bilden das Glück meines Lebens, und nöthigen mir in meinem nunmehr zurückgelegten 63sten Jahre den aufrichtigen Wunsch ab, lange noch als Diener einer heiteren Kunst, für mich und Andere, dem Ernste des Lebens – nach Kräften eine freundliche Kehrseite zu verschaffen.“
Gelingt, auch noch 250 Jahre nach seiner Geburt – herzlichen Glückwunsch, Johann Christian Heinrich Rinck!