Die Aktualität erschlägt beinahe. Im Essener Aalto Theater steht zur Spielzeiteröffnung “The Greek Passion” von Bohuslav Martinů auf dem Programm, eine Oper über Flüchtlinge.
Im wohlhabenden Örtchen Lycovrissi soll ein Passionsspiel aufgeführt werden, da sorgt plötzlich eine Gruppe Flüchtlinge für Aufruhr. Ihre Heimat wurde von osmanischen Besatzern zerstört, nun flehen sie ihre Nachbarn um Hilfe an. Während Oberpriester und Dorfälteste alles dafür tun, sich der Störenfriede schnurstracks wieder zu entledigen, identifizieren sich die Spieler der Passionsgeschichte so sehr mit ihren Rollen, dass sie, christliche Nächstenliebe predigend, zur Hilfe eilen. Interessens- und Gewissenskonflikte bringen Streit und Wirbel in die Dorfidylle. Das geht nicht gut.
Regisseur Jiří Heřman lässt die Moralkeule im Schrank, auf politisch-gesellschaftliche Seitenhiebe verzichtet er. Er inszeniert im zeitlosen Gewand, ohne Kopftücher und Wutbürgertum. Ihn interessiert stattdessen die Ebene unter dem Konflikt, nämlich die Frage, wieso Menschen ihresgleichen ausgrenzen. Schön gedacht – nur fehlt dem Werk dafür der Zündstoff.
Noch auf dem Sterbebett stellt Martinů 1959 diese zweite Fassung fertig. Die Thematik geht ihm nahe, der zweite Weltkrieg zwingt ihn zur Emigration nach Amerika, er wird selbst zum Flüchtling. Über die Romanvorlage von Nikos Kazantzakis schreibt Martinů: “Es gibt darin viele Dialoge und nur wenig kann weggelassen werden, wenn das Libretto auch für Dummköpfe klar bleiben soll, und das frisst mir viel von der Musik weg.” Genau darin steckt die Gefahr. Denn seine Oper hat einen ungewöhnlich hohen Rezitativ-Anteil, kaum Zwischenspiele oder Arien. Huschhusch folgt Szene auf Szene, Dialog auf Dialog.
Düstere Vorahnung spricht aus der Bildsprache zu Beginn – schwarze Schemen der Flüchtinge lungern im Dunkel hinter den Dorfbewohnern. Da können sie noch so stur in die andere Richtung sehen, verschwinden werden die Hilfesuchenden nicht. Hinter ihnen ragt eine kahle Steinwand in die Höhe, sie können nicht zurück. Schon das erste Zusammentreffen macht klar, Gastfreundschaft gibt es hier nicht. Bläuliches Seitenlicht wirft bedrohliche Riesenschatten der Dorfbewohner an die Steinwand, harsches Blech erhebt sich über ängstlich säuselnde Geigen – die Hierarchien sind allgegenwärtig.
“Es ist gut für jedermann, zu den altbewährten Wahrheiten zurückzukehren, wenn sie auch gerade nicht modern und aktuell zu sein scheinen – und wenn sie auch nicht einmal wahr sind, sondern nur ein Glaube an etwas Gutes und Gesundes.” (Bohuslav Martinů)
Welche Konflikte die Charaktere mit ihrem Gewissen austragen, wird nur angedeutet, die Handlung spinnt sich nicht fort, sie wird diktiert. Von einem Moment auf den anderen überschüttet Dorfhure Katerina als Maria Magdalena den Jesus-Darsteller Manolios mit Erlöserfantasien, während dieser kurz darauf predigend durch die Gassen zieht. Zwar sind diese Handlungs-Häppchen von der Regie kreativ verpackt, geschwind und lautlos gleiten idyllische Seelandschaften oder Gemüsefelder auf die Bühne oder fahren Grenzzäune von der Decke. Manche Regieanweisung verstärkt die eindimensionale Personenzeichnung Martinůs aber auch. Judas muss Petrus mit Fausthieben traktieren und beinahe Katerina vergewaltigen, die Jünger tragen andächtig tote Flüchtlingskinder vor brennende Kerzen – Gut und Böse sind auch hier klar gesetzt. Diese Darstellung der Geschichte reicht nicht aus, sie ist zwar ästhetisch inszeniert, aber auch die Musik Martinůs schmückt eher aus, als dass sie psychologisiert. Zum kitschigen Liebesmotiv darf Katerina ihre Gefühle für Manolios ausschütten, Paukenwirbel und Bläsertumult begleiten den Aufstand des Volks gegen die Eindringlinge.
Auf sehr hohem Niveau ist dagegen die musikalische Umsetzung, fast ausnahmslos präsentieren die Essener Philharmoniker unter der Leitung von Tomáš Netopil einen zupackenden, aufgeweckten Klang. Auch das Zusammenspiel und vor allem die Gewichtung von Orchester und Sängerensemble sorgen für wunderbare Klangmomente. Wie ein reifer Rotwein mit spitzem Bouquet schmeckt Jessica Muirheads (Katerina) vollmundiger Sopran. Jeffrey Dowds melancholischer Klang spiegelt hervorragend die Rolle des Manolios, ebenso die beinahe zugeknöpfte Klangwucht Almas Svilpas den Priester Grigoris. Very British und very good ist auch die lyrische Leichtigkeit und Flexibilität von Michael Smallwood als Bauer Yannakos.
Am Ende der Oper bleibt das Gefühl zurück, mal wieder die immergleiche Leier gehört zu haben. Manolios wird ermordet, die Flüchtlinge müssen weiterziehen und die Fieslinge im Dorf reißen Reichtum und Macht wieder an sich. Wie Glockengeläut schallt die Moral, in der grausamen Welt ist kein Platz für christliche Nächstenliebe. Nur was tun mit dieser verstaubten Erkenntnis?