Jeder menschliche Körper ist ein Kunstwerk für sich. Kunstsphären allein mit diesem Fleisch und Blut entstehen zu lassen, begreifen Tänzer als ihre Mission und genauso versteht auch Ballettintendant Xin Peng Wang seine Profession. Pure Körperkunst kreiert der Choreograph mit der Dortmunder Company für seine neue Ballettinszenierung „Rachmaninow &Tschaikowsky“. Gefühlsechte Tanzeruption im Dortmunder Opernhaus.
Stille im Opernsaal. Blaue Organismen bewegen sich exzentrisch über die Bühne. Schleichend, kriechen, hüpfend, tänzelnd. Daneben glänzt der schwarze Flügel. Seelenruhig wartet er seinen Auftritt ab. Das Klavierkonzert Nr. 3 Sergei Wassiljewitsch Rachmaninows. In den ersten zehn Minuten aber bilden die in blauen Morphsuits steckenden Tänzer ein abstraktes Standbild. Kein einziger Ton erklingt. Das Publikum ist mit dieser ausgedehnten Stille überfordert, wird unruhig.
Erleichtertes Aufatmen macht sich im Saal breit und löst die Hustenorgie ab, als der Pianist William Youn die Bühne betritt. Das Publikum will Musik und die bekommt es auch von dem tiefenentspannt wirkenden Kosmopolit Youn. Sein Fokus liegt am heutigen Abend auf Sergej Rachmaninows Klavierkonzert Nr.3 in d-Moll. Dieses virtuos fingerverknotende Werk trägt nicht ohne Grund den Beinamen“ Konzert für Elefanten“. Schwerste technische Anforderungen gilt es für den Pianisten zu bewältigen und von allen großen Klavierkonzerten hat Rachmaninows in den Klavierparts die meisten Noten pro Sekunde. Nur wenige Pianisten rührten dieses Werk des russischen Virtuosen an, aus Angst daran zu scheitern. Selbst der Komponist übte mehrere Stunden täglich, um seinen eigenen spieltechnischen Anforderungen gerecht zu werden. Und Pianist Youn scheitert nicht, er brilliert. Stürzt sich in die Wechselwirkung von Spiel und Drama. Ganz im Sinne Rachmaninows singt er mit seinen Fingern auf den Tasten. Denn der russische Meister äußerte sich zu seinem kompositorischen Vorgehen des dritten Klavierkonzertes einmal wie folgt „Wenn ich irgendwelche Pläne beim Komponieren hatte, so waren es reine Klangvorstellungen. Ich wollte auf dem Klavier eine Melodie singen, so wie es Sänger tun, und dazu eine passende, oder genauer, den Gesang nicht übertönende Orchesterbegleitung finden. Das ist alles.“
Nicht nur für den Pianisten ist Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 eine echte Herausforderung, sondern auch nicht selten nehmen es Zuhörer als musikalische Reizüberflutung wahr. William Youn singt mit den Dortmunder Philharmonikern und auf der Bühne tanzen keine Elefanten, sondern anmutige Profis. Die Tänzer und Tänzerinnen experimentieren mit ihren Körpern und überschreiten Grenzen zu Rachmaninows melodischen Ektasen. Xing Peng Wang schöpft das Potential seiner Balletttänzer in vollen Zügen aus und beweist, dass sie sich auch neben dem klassischen Ballett im Ausdruckstanz zu Hause fühlen können. Nur selten fehlt es dem Ballettensemble an Synchronität.
“Durch Kunst werden Gefühle veredelt.”
Im neuen Ballettstück überlässt es der Choreograph Wang dem Zuschauer, persönliche Gefühle in die Bewegungsabläufe der Tänzer hineinzuinterpretieren, um diese, laut Dortmunder Chefdramaturg Christan Baier „durch die Kunst veredeln“ zu lassen. Vermutlich trägt deswegen auch die gesamte Company die blauen Ganzkörperanzüge im ersten Teil, um den Fokus ausschließlich auf die emotionsevozierenden Bewegungen zu lenken. Unkenntlichkeit der Ausdrucksproduzierenden soll zur intensiveren Wahrnehmung des tänzerischen Ausdrucks führen. Doch sie führt eher zu einem Ausdrucksverlust. Versteckt in Morphsuits verliert jeder Tänzer seine ganz persönliche Note.
Nach der Pause herrscht auf der Bühne karge Dunkelheit. Von der Decke hängt ein silbriges Korallenkunstwerk. Tschaikowskys 6. Sinfonie ist für den zweiten Teil des Abends angesetzt. Dazu orientiert sich Xin Peng Wang bei seinen Choreographien beim klassischen Ballett und spielt mit Elementen des Moderndances, sowie Ausdruckstanzes. Grundtenor von Tschaikowskis Sinfonie ist die Sehnsucht, die von Primaballerina Luccia Lacarra und ihrem Duo-Partner Marlon Dino ausdrucksstark verkörpert wird. Lacarra besticht mit ihrer technischen Perfektion und Dino wirbelt seine Tänzerin mit einer Leichtigkeit durch ihr gemeinsames Pas-de-deux. Sinnliche Tanzkunst, die ohne Worte auskommt.
Obwohl bei der Uraufführung in St. Petersburg 1893, wenige Tage vor seinem Tod, weder das Publikum, noch Orchester seine 6. Sinfonie euphorisch aufnahm, war Pjotr Tschaikowsky auf seine 6. am stolzesten. Mit erbarmungsloser Offenheit werden Emotionen in der Musik verarbeitet, die Dortmunds Ballettcompany mit viel Dynamik und Ausdruckskraft auf die Bühne bringt. Kontrastreiche Bewegungen, das schlichte Bühnenbild mit der schwebenden Silberkoralle und die kalte Beleuchtung verstärken die ausdrucksstarke Inszenierung. Tänzer und Musiker im musikalischen Gefühlsrausch dem das Publikum direkt ausgesetzt ist. Am Ende spendiert das Dortmunder Publikum den Künstlern einen tosenden Applaus und wird mit versilberten Emotionen in den nebligen Novemberabend entlassen.