Am Ende tragen viele von ihnen T-Shirts mit der Aufschrift “Free Kirill”. Schon vor der Vorstellung im Züricher Opernhaus war klar: Es wird ein Opernabend der besonderen Art werden.
Eine ganz spezielle Premiere stand im November in Zürich auf dem Programm. Mozarts Così fan tutte – so weit, so unspektakulär. Ist es das Bühnenbild, das über die Schweiz hinaus im Gespräch ist? Der Regisseur verpasste Mozarts Oper nämlich einen modernen Touch: Eine Wohnküche und Selfies hat er im Programm. Sicher schön gedacht, aber keinesfalls der Aufregung wert.
Etwas anderes ist an dieser Aufführung so besonders: Der Regisseur ist zu seiner Premiere gar nicht erschienen. Er ist auch bei den letzten Proben, in den es um den richtigen Feinschliff ging, nicht da gewesen. Kirill ist dennoch dabei. Er weiß von seiner nie persönlich erlebten Premiere und hofft von Russland aus auf den Erfolg seiner Ideen. Seine Regiearbeit unternimmt er aus seiner Moskauer Wohnung heraus, Videotelefonie sei Dank. In Russland ist er angeklagt und darf deswegen seine Wohnung nicht verlassen. Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel an seiner Anklage. Vieles spricht dafür, dass er aus politischen Gründen in Russland festgehalten wird.
So ist Mozarts Così fan tutte an der Oper Zürich mitnichten eine gewöhnliche Aufführung. Man kann sie zweifellos als Politikum ansehen, als einen Akt des Widerstandes gegen den Versuch, seine Werke mundtot zu machen. Denn Kirill Serebrennikov war nicht nur an der Oper Zürich tätig, sondern schwerpunktmäßig am Gogol-Theater in Moskau. Seine Werke dort brachen mit den Tabus, die die Regierung dem Land auferlegt hatte. Diese haben auch weitestgehend zu einem Stillstand in der Kulturszene Russlands geführt.
Symbol des “Neuen Theaters in Russland”
Nur wenige trauen sich offen, politische Themen zu behandeln oder sie zu hinterfragen. Serebrennikov hingegen war ein Einzelfall: Er präsentierte seinem Publikum Zeitgenössisches und gleichzeitig Explosives, um damit zur Diskussion anzuregen. Dabei führte er die Haltung der Regierung zu Homosexuellen genauso vor, wie die sichtbar regungslose und kampflos gewordene Gesellschaft. Er galt als Symbol des “Neuen Theaters in Russland”. Viele Hoffnungen ruhten auf Kirill und seinen Ideen. Die politischen Machthaber des Landes sollten dennoch etwas finden, um ihn verstummen zu lassen und evtl. Nachfolger gleich ganz zu verhindern. Angeklagt ist er wegen “Veruntreuung öffentlicher Mittel”. Seine Schuld ist bisher nicht bewiesen. Gegenbeweise werden immer wieder mit fragwürdigen Argumenten abgelehnt. Beobachter vermuten seine kremlkritischen Aktivitäten als einzigen Grund für das gegen ihn eingeleitete Verfahren.
Nun also: Vorhang auf für Così fan tutte. Schnell wird klar: Serebrennikov hat nicht einfach nur zeitgenössische Elemente implementiert, vielmehr spielt sich seine ganze Oper im Hier und Jetzt ab. Als Mozart seine Klänge 1790 zum ersten Mal zum Besten gab, verfügte die Welt gewiss noch nicht über ein schmuckes Fitnessstudio. Der Zündstoff seines Werkes war aber schon bei der Uraufführung explosiv: Die Männer wollen sich profilieren und zeigen, dass nur sie selbst der Richtige für ihre Freundin sein können. Weit gefehlt – das vermeintliche Spiel führt schließlich zur Lust am Anderen und Erotik am Neuen. Diese schon für damalige Verhältnisse emotional aufgeladene Oper transponiert Serebrennikov in die heutigen Ausprägungen von Liebe: Die Verwirrungen in der Liebe sind gleich geblieben, unser freizügiger Lebensstil ermöglicht jedoch ganz neue Formen von Selbstdarstellung: Die harten Jungs zocken nach ihrem Sport Online-Games, die Mädels hingegen sind immer für ein Selfie zu haben.
Kleidung und Aussehen spielten schon bei Mozart eine große Rolle. Così fan tutte in Zürich präsentiert uns die moderne Frau und den dazugehörigen Mann im Jahr 2018 – und wird damit Serebrennikovs Anspruch gerecht, der heutigen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Denn nur durch seine tagesaktuelle Inszenierung schafft er es, ein nahezu vollständiges Bild einer jeden möglichen Wohnküche zu liefern, in der jeder von uns beteiligt sein könnte.
Für Interessierte: Seine Oper bleibt im Spielplan, auch, weil der Andrang so groß geworden ist. Nicht mit uns, lautet wohl das Motto der Zürcher. Und so lauft sein Traum von Mozart weiter – wenn auch im 2000 km fernen Zürich. Er ist trotzdem wahr geworden.