Festival-Protokoll: Ein Samstag in Gohrisch

Schon zum dritten Mal bin ich bei den Internationalen Schostakowitsch Tagen in Gohrisch dabei und noch nie war ich bei so vielen Konzerten und Einführungen wie in diesem Jahr. Zusätzlich besonders: In diesem Jahr war es extrem heiß und diese hohen Temperaturen haben sich unweigerlich auf das Festivalerlebnis ausgewirkt.
Der Festivalsamstag ist in Gohrisch immer am dichtesten geplant – mit drei Veranstaltungen. Genau diesen Tag habe ich für euch in einem Minutenprotokoll festgehalten. Ich werde alle Gedanken möglichst ohne Änderungen und ungefiltert für euch festhalten.

00:11 Mein Tag startet auf der Außenterrasse der Elbresidenz Bad Schandau. Die sternlose Nacht lässt den halbwarmen Weißwein in meinem Plastikbecher noch schneller in meine Kehle fließen. Prost!

00:28 Ich gehe ins Bett, obwohl die meisten Anderen noch wach sind. Das war sehr erwachsen!

07:30 Mein Wecker klingelt und ich freue mich noch mehr, dass ich vor sieben Stunden so erwachsen war.

07:35 Mein Wecker klingelt.

07:40 Mein Wecker klingelt, draußen ist es jetzt noch angenehm kühl, ich gehe auf die Terrasse, schaue in den Innenhof. Eine kleine Spinne schaut mit mir mit und ich gehe schnell unter die Dusche.

08:30 Auf zum Frühstück.

09:07 Mein erster Teller beim Frühstück ist leer, mein Bauch ist pickepackevoll.

09:08 Ich mache mir einen zweiten Teller voll.

09:30 Ein letztes Stück Obst wandert in meinen Mund, jetzt ist das Redaktionsmeeting.

09:31 Das Redaktionsmeeting wurde 5 Minuten nach hinten verschoben.

09:40 Das Meeting beginnt.

09:49 Draußen trötet ein Zug, alle sind wach, die Temperatur steigt.

09:52 Meine neue Lieblingsperson ab jetzt: Der Blätterer.

09:53 Meine Kommilitonin Naomi liest mein bisheriges Minutenprotokoll, ein Lächeln umspielt ihre Lippen.

09:54 Ein zweiter Zug trötet, jetzt nervt’s.

09:58 Die Temperaur steigt weiter, meine Konzentration sinkt.

10:25 Ich schwitze vor dem Hotel.

10:35 Ich schwitze im Shuttle zur Konzertscheune.

10:55 Schweiß bedeckt meine Stirn, in fünf Minuten beginnt der Film.

11:00THE TWO – THE STORY TOLD BY SHOSTAKOVICH’S WIFE”  ist die erste Filmvorführung, die ich bei den Internationalen Schostakowitsch Tagen sehe und ich bin sehr gespannt. Die Konzertscheune ist noch lange kein Kino, aber trotzdem starren knapp 300 Leute gebannt nach vorne.

11:05 Die Regisseurin Elena Yakovich steht auf der Bühne. Sie erzählt, wie die Idee für diesen Film schon jahrelang in ihrem Kopf existiert. Nur Irina Schostakowitsch hatte sich bislang nicht überreden lassen ihre Gedanken, Erinnerungen und Perspektiven für den Film herzugeben. 2022 ist es aber doch geschehen und an einem sehr langen Tag hat Irina bei laufender Kamera alles erzählt.

12:00 Kurze Zwischenbilanz: Es ist nicht möglich während des Films dauerhaft in mein Handy zu tippen. Der russische Originalton ist englisch untertitelt und durch das schnelle Erzähltempo kommen meine Augen sowieso kaum mit.

12:01 In der ersten Hälfte des Films hat Irina viel von ihrer Kindheit im zweiten Weltkrieg erzählt und das hat mich wirklich mitgenommen. Zu erfahren, wie sie erst ihre Eltern und später auch noch ihre Großeltern verloren hat, macht mich emotional und nachdenklich. Momentan gibt es auch Kriege, auf der ganzen Welt. Einer Person zuzuhören, die den 2. Weltkrieg miterlebt hat, ist im Jahr 2024 nicht mehr selbstverständlich und macht den Film auch zu einem wichtigen historischen Dokument.

12:17 Der Film stoppt. Einfach so. Scheinbar gibt es ein Problem mit dem Wiedergabeprogramm und es wird eine spontane Pause für alle eingeschoben.

12:18 Draußen in der prallen Sonne ist es kühler als in der aufgeheizten Scheune. Ich versuche mich abzukühlen, indem ich mir eine kalte Wasserflasche in den Nacken lege.

12:19-14:00 Aufgrund der Hitze gibt es hier eine Verkürzung der Ereignisse:

Wasser im Nacken, Wasser trinken, Wasser ausschwitzen, Film geht weiter, es wird spannend, Schostakowitsch stirbt am Ende und ich bin wieder etwas traurig, ich schwitze und schwitze, es gibt Eis, Felix und Lisa werden gleich ihre Konzerteinführung zum Preisträgerkonzert geben, ich weiß nicht, wie lange mein heißer Kopf noch dieses Minutenprotokoll durchhalten kann…

14:26 Die Konzerteinführung von Felix und Lisa hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Vor allem die poetische Lyrik von Ossip Mandelstam hat mir sehr gefallen. Ich habe auch gelernt, dass Schostakowitsch sein neuntes Streichquartett für Irina geschrieben hat – passt gut zum Film.

15:05 Ich wechsle meinen Sitzplatz in der Scheune und setze mich weiter nach rechts, dort ist es etwas kühler.

15:08 – 15:36 Das neunte Streichquartett beginnt und es ist unglaublich intensiv. Die Hitze drückt auf meinen Schädel und die Musik wirkt dadurch noch drängender und rasanter.
Dennoch fallen meine Augen im Sekundenschlaf manchmal kurz zu. Das Quatuor Danel trägt daran keine Schuld. Die vorherigen beiden Tage voller Hitze fordern ihren Tribut und während ich meine Augen krampfhaft versuche offen zu halten entgehen mir viele intensive musikalische Momente.

15:40 Der mittlerweile 80-jährige Krzysztof Meyer betritt die Bühne und hält eine Laudatio auf Irina Antonowna Schostakowitsch. Verrückt! Ein berühmter Komponist steht einfach bei 35 Grad in einer Scheune, als wäre es das Normalste der Welt. Genau für sowas liebe ich Gohrisch.

15:55 Aufgrund ihres hohen Alters und der beschwerlichen Anreise kann Irina Schostakowitsch dieses Jahr nicht in Gohrisch sein. Ihre enge Freundin Olga Digonskaya – sie ist die Archivarin des Schostakowitsch-Archivs in Moskau – nimmt den Preis für Irina an.

15:57 Olga erzählt, dass sie Irina schon fast 50 Jahre kennt und berichtet von kleinen Erinnerungen und Begegnungen. Als Olga Irina erzählt hat, dass sie den Preis erhalten wird, hat sie abwehrend reagiert:
“Ich war nur sein Schatten und habe für ihn gemacht was notwendig war”

15:59 So sehr hier alle den Komponisten Schostakowitsch ehren, finde ich es unglaublich wichtig seiner Frau diesen Preis zu verleihen, die hinter Schostakowitsch komplett verschwunden ist.
Ein berührender Moment ist das.

16:02 Großer Applaus für Irina

16:10 Nun folgt eine Uraufführung von Alexander Raskatov:

“Black Sun”. Sieben Gedichte von Ossip Mandelstam für dramatischen Sopran und Klavier. Ich habe davor ein wenig Angst, denn das letzte Stück, das ich hier von Raskatov gehört habe, war harter Tobak und hat meine Ohren auf die Probe gestellt. Da war ich allerdings noch aufnahmefähig. Jetzt gehe ich schon am Stock.

16:11 Es geht los und ich weiß leider jetzt schon, dass ich diese Art von Musik nicht genießen werde.

16:12 Sopranistin Elena Vassilieva schraubt sich mit ihrer unheilvollen Vibratostimme in die Höhe. Die Musik ist atonal, bedrückend und unvorhersehbar.

16:16 Nathalia Milstein am Klavier begleitet Vassilieva entweder mit krachenden Clusterakkorden oder mit quälend langsamen Einzeltönen.

16:19 Ich versuche mich zu konzentrieren, doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab.

16:23 Ich kann endgültig nicht mehr und mein Blick geht an der Musik vorbei ins Leere.

16:28 Von vorne ein schriller Schrei, ich zweifle an meiner Existenz, ein kleiner Schweißtropfen rinnt mir den Rücken hinunter.

16:30 In der Scheune sind es 36 Grad und es wird noch heißer.

16:35 Ein Teil unserer Gruppe, ich eingeschlossen, entscheidet auf den Tschaikovsky in der zweiten Hälfte zu verzichten und zurück zum Hotel zu fahren.

16:55 Ich liege völlig erschöpft im Bett und versuche wieder zu Kräften zu kommen.

18:09 Ich liege immer noch platt im Bett. Langsam steigt jedoch wieder die erste Vorfreude in mir hoch: Nachher spielt Gidon Kremer. Es war die richtige Entscheidung, dass wir uns eine kleine Pause gegönnt haben.

19:16 Das letzte Mal, das wir heute zur Scheune fahren. 8 Komponist*innen, 8 Stücke, die man so schnell nicht wieder hören wird, 8 Leute mit Bock im Auto.

19:30 Beim Kammerabend werden Gidon Kremer und seine Kremerata Baltica zu hören sein. Sie präsentieren Werke von unbekannteren Komponist*innen. Ich bin sehr gespannt, in welche musikalische Richtung das geht.

19:35 Das erste Werk ist von Alfred Schnittke, nur Gidon Kremer an der Violine und Onutė Gražinytė am Klavier.

19:38 Bislang gefällt mir Kremer nicht so gut. Ich bin kein ausgewiesener Geigenexperte, aber er wirkt lustlos und scheint Probleme mit der Intonation zu haben.

19:45 Ich zerfließe schon wieder, diese Scheune wird mein Tod sein und ich hoffe, dass mich die Musik von Viktor Kalabis erretten kann.

19:47 Direkt in der Reihe hinter mir fällt ein Handy zu Boden…hoffentlich ist es kaputt.

19:49 Der zweite Kalabis-Satz gefällt mir richtig gut.

19:52 Die Duettina für Violine und Violoncello von Kalabis ist eine richtig positive Überraschung und ich sitze mit wippendem Kopf und staunendem Mund im Publikum.

19:55 Der vierte Satz bietet die schnellsten Töne, die ich bislang bei diesen Schostakowitsch Tagen gehört habe. Virtuos und rasant, macht Spaß…nebenbei Eintrittskartenfächerrascheln.

19:59 Für Symbiosis von Erkki-Sven Tüür steht zum ersten Mal ein Kontrabass auf der Bühne.

20:00 Eine Mischung aus Stimmversuch, Weltraummusik und ganz viel Oberton…klingt nach mehr als 2 Instrumenten und sehr cool.

20:03 Viele Oktaven und Vierteltöne. Kennen Sie schon das YouTube-Video “Shane sings 5 octaves on piano“?

20:05 Trotz des humorvollen Kommentars vor zwei Minuten: Dieses Stück von Erkki-Sven Tüür beeindruckt mich unglaublich und ich habe riesigen Spaß beim Hören.

20:08 Eine ältere Dame vor mir bewegt sich mit ihrem Schlüssel in der Hand rhythmisch zur Musik und wedelt mit ihren Armen. Ob das ein Zeichen großer Bewunderung oder Verachtung ist, ist nicht klar.

20:09 Tüür spielt mit seinen Zuhörer*innen. Ich dachte jetzt schon mehrmals, das Stück wäre vorbei, aber dann ging es doch wieder los.

20:13 Mir fällt auf: Bislang nur ein Stück mit Gidon Kremer.

20:14 Da ist er wieder.

20:15 Mit Grażyna Bacewicz ist nur eine Komponistin auf diesem Festival vertreten und dann wird auch nur ein Satz aus ihrem ersten Klavierquintett gespielt…großes Naja, Gohrisch.

20:19 Die Harmonien der vier Streicher schweben zwischen Dur und Moll durch den Raum, Bacewicz hat da großes Kino komponiert. Ich kann hier sogar die Hitze um mich herum vergessen und gebe mich ganz der Musik hin.

20:28 Mieczysław Weinbergs sechste Klaviersonate überzeugt mich auf ganzer Linie, jeder Ton überrascht mich und klingt trotzdem so als müsste er genau da hingehören. Was für ein grandioser Abschluss vor der Pause.

20:51 Der Kammerabend hat sich mit seiner ersten Hälfte relativ schnell zu meinem bisherigen Lieblingskonzert in Gohrisch gemausert. Jedes Stück war in seiner Individualität ganz besonders und hat mich abgeholt. Bitte mehr davon!

21:03 Die zweite Konzerthälfte höre ich mir von draußen an, hier ist der Klang ebenso gut und ich kann die untergehende Sonne und eine Weinschorle genießen.

21:12 Nach einer überwältigenden ersten Hälfte ist die Ruhe des Concertino Barocco “Hommage an J. S. Bach” von Tālivaldis Ķeniņš fast ein wenig unspektakulär. Vielleicht hätte ich doch hinein gehen sollen.

21:20 Von draußen hört sich Raskatovs Litany für Streichtrio fast so an, als wäre es für Bläser komponiert worden. Sehr geerdet und zart. Ein ganz anderer Raskatov als bei der Uraufführung vorhin.

21:31 Von draußen wirkt das halb geöffnete Scheunentor wie das Fenster in eine andere Welt.

21:37 Eine Mücke labt sich an meiner Wade.

21:45 Das Klavierquintett von Alfred Schnittke ist tieftraurig. Teilweise klingt es sehr nach Schostakowitsch – DSCH ich hör’ dich trapsen.

22:13 Die Kremerata Baltica gibt jetzt schon eine Zugabe und ich merke, dass ich mich von Schnittkes Klavierquintett so habe einsaugen lassen, dass ich gar nicht mehr weitergeschrieben habe. Macht nichts.

22:37 Ich sitze wieder mit den anderen terzwerk-Menschen im Shuttle nach unten. Wir reden kaum und sind alle platt und müde.

23:00 Ich bestelle mir einen unerhört teuren Cocktail an der Hotelbar und beende das Minutenprotokoll. Ein langer Tag voller Eindrücke geht zu Ende. Ich bin glücklich und zufrieden. Trotz der Hitze war Gohrisch gut zu mir. Die Eindrücke, die ich hier sammle, kann ich auch wirklich nur hier sammeln. Das ist einmalig. Danke, Ende.

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