Beim Verlassen des Saals im Opernhaus Dortmund spürt man eine innere Zerrissenheit. Es bilden sich zwei verschiedene Fronten. Auf der einen Seite die fassungslose Erschütterung und ihr gegenüber der ironische Sarkasmus. Es scheint keine Gemeinsamkeit zu geben und doch fühlt man beides gleichzeitig.
Next to Normal (Fast normal), von Tom Kitt und Brian Yorkey, ist nichts für schwache Nerven und alles andere als ein „Gute-Laune-Musical“.
Das Publikum sieht auf einen Hausquerschnitt und bekommt dadurch einen direkten Einblick in das Familienleben von Diana (Maya Hakvoort) und ihrem Mann Dan (Rob Fowler). Beide leben zusammen mit ihrer heranwachsenden Tochter Natalie (Eve Rades) in einer gutbürgerlichen, amerikanischen Vorstadt. Das Familienleben wirkt zunächst total normal und doch fängt langsam der perfekte Schein der glücklichen Familie an zu bröckeln. Irgendetwas stimmt da nicht. Schnell wird klar, dass Diana die Ursache ist. Bei Natalies Mutter wurde wegen einer traumatischen Erfahrung eine bipolare Störung diagnostiziert. Vor rund 17 Jahren verlor das Ehepaar ihren Sohn im Säuglingsalter. Seitdem taucht Gabe (Johannes Huth) als paradoxe Vision in Dianas Gedanken auf und ist die Ursache ihrer verkorksten und bemitleidenswerten Familiensituation.
Johannes Huth spielt die personifizierte Krankheit so gut, dass man sich ihn im Verlauf des Stücks nur noch wegwünschen möchte. Fast penetrant und manchmal etwas zu bedrohlich wirkt sein Auftreten. Durch ihn lässt sich erahnen, wie hart der Kampf in Dianas Kopf ist. Aber diesen führt sie nicht allein. An ihrer Seite befinden sich ihr Mann und ihre Tochter, beide geschwächt, manchmal genervt und doch stets hoffnungsvoll. Die Hoffnung scheint bei Natalie jedoch nicht stringent anzuhalten. Nicht nur einmal drohen ihre Sorgen sie zu zerbrechen. Eve Rades spielt dabei ihre Ausbrüche bewegend, wenn auch etwas verhalten. Trost und Ablenkung findet sie bei einem Schulkollegen und späteren Freund Henry (Dustin Smailes). Obwohl Henry fast das ganze Stück von Natalie zurückgewiesen wird, zweifelt er nicht ein einziges Mal an ihrer Beziehung. Sein hoffnungsvoller Kampf um Natalie zieht Parallelen zu Dans Kampf mit Dianas Krankheit. Die Figuren scheinen miteinander verwoben zu sein, trotz der vielen Risse. Konkret wird dieser Gedanke in dem Lied „Warum/Ein Versprechen“ aufgegriffen, wenn es darum geht, einem Menschen auch in den schwärzesten Momenten des Lebens beizustehen. Während Dan sich daran erinnert, dass ein weit in der Vergangenheit liegendes Versprechen immer noch für ihn aktuell ist, gibt Henry Natalie, eben jenes gleiche Versprechen.
In dem Stück gibt es kein Schwarz-Weiß-Schema, sondern so facettenreiche Graufärbungen, die genauso im echten Leben existieren könnten. Besonders auffallend ist dabei Maya Hakvoorts Rolle, die sie so authentisch und großartig spielt, dass es fast schon erschreckend ist. Egal was sie sagt und singt, es trifft – auch trotz der kleinen Sprachbarrieren. Neben Maya Hakvoort spielt Jörg Neubauer die beiden Ärzte, die Diana auf ihrem Weg betreuen. Während er Dr. Fine als einen emotionslosen, nur an die Wissenschaft denkenden Arzt spielt, entwirft Neubauer in Dr. Madden einen Traum von einem Arzt. Nicht umsonst erscheint er Diana als bombastischer Rockstar.
Die Tontechnik war der Wermutstropfen des Abends. Schade drum, denn so ging in den elektrisierenden, rockigen und alles andere als typischen Musicalliedern viel verloren. Während die Zuschauer in den vorderen Reihen die Texte noch einigermaßen gut verstehen konnten, hatte man im hinteren Bereich wirkliche Probleme die einzelnen Stimmen auseinanderzuhalten.
Der Regisseur Stefan Huber setzte seinen Fokus auf die zwischenmenschlichen, komplexen Beziehungen und gab dem Publikum dadurch die Möglichkeit, Einblicke in eine Familie zu bekommen, die an den Auswirkungen einer depressiven Krankheit zu Grunde geht. Die besondere Zusammenarbeit mit der LWL Klinik für Psychiatrie in Dortmund Aplerbeck bot den Darstellern die Möglichkeit, fundiertes Wissen über ein so schwieriges Thema zu sammeln. Durch diese besondere Grundlage gelang es den Darstellern, Menschen zu zeigen, die nicht näher an der Realität sein könnten. Realitätsfern war jedoch das Schlusslied, das auch einfach weggelassen werden könnte, dadurch hätte der zweite Akt auch an Langatmigkeit verloren. Trotz der kleinen Makel und des ungewohnten Themas bleibt das Musical vielleicht auch gerade deshalb einmalig, da es hier gelungen ist, das Publikum zum Lachen und Weinen gleichzeitig zu bringen.
Den “Anruf danach” zur Premiere von “Next to Normal (Fast normal)” gibts hier.