In der Schule ist eins meiner witzigsten Oberstufenfächer Hebräisch gewesen. Wir waren fünf Schüler, schauten uns Parodien von Bibelszenen an, aßen Kekse und lasen und übersetzten Texte aus dem Alten Testament. Unter anderem haben wir die Geschichte des Propheten Elias behandelt, der so etwas wie ein ziemlich schräger, aber genialer biblischer Superheld war. Grund genug für den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, ihm und seinen Erlebnissen ein Oratorium zu widmen: das Elias-Oratorium aus dem Jahr 1846.
Im Laufe der Zeit bin ich in den Genuss von beidem gekommen: der betreffenden Stellen in Thora bzw. Bibel im Unterricht und vor ein paar Wochen dem Oratorium durch eine Interpretation unter anderem der Stadtkantorei Bochum. Letzteres erzielte bei mir übrigens eine weitaus höhere Wirkung als der reine Text. Das hatte unter anderem etwas mit toten Stieren zu tun…
Zuerst jedoch zur Geschichte: Elias, der Prophet, lebt in schwierigen Zeiten. Sein Volk Israel wird von einem König regiert, der nicht an Gott, sondern an eine Gottheit namens „Baal“ glaubt, weswegen der Großteil des Volkes ebenfalls als ungläubig gilt. Das erzürnt Gott – klar, es ist ja auch nicht besonders schön, wenn einem die eigenen Kinder in den Rücken fallen. Ob man sie deswegen jedoch verhungern lassen muss, ist fraglich. Trotzdem lässt Gott eine Dürre über das Land kommen und bringt das Volk Israels in eine ziemliche Notsituation.
Was hier so trocken klingt und in dem Originalbibeltext nicht mehr ausmacht als etwa zwei Verse, nimmt Mendelssohn als Ausgangspunkt des Oratoriums. Der Chor als Volk wendet sich nach einer dramatischen Ouvertüre an Gott und fleht ihn an, ihm zu helfen. Dabei spielen die Streicher eine ganz elementare Rolle, indem sie die bedrückende Atmosphäre, die der Chor mit „Hilf, Herr!“ herstellt, auf engstem Raum konzentrieren. Mir als Zuhörerin bleibt so eigentlich kein Entkommen, auch wenn es mir lieber wäre: Ich muss mit anhören, wie das Volk leidet, und fühle sogar seine Not, seine Verzweiflung am eigenen Leib. Gut, hungrig war ich zu dem Zeitpunkt nicht, aber hätte genau diese Musik noch ein bisschen länger gespielt, hätte ich bald auch das Gefühl gehabt, ein Loch im Bauch klaffen zu haben.
Dies war die erste Stelle von vielen im Oratorium, bei denen die Musik mich als Zuhörerin direkt einsog. Sie führte mich in die Geschichte hinein, sie weckte Empathie, Mitgefühl und sogar Mitleid, und ließ mich teilweise meine eigenen Weltanschauungen kurzzeitig vergessen.
Das nächste Erlebnis, das mich richtig mitnahm, folgte kurz darauf. Gott rettet Elias vor der Dürre, indem er ihn erst in ein Tal und dann zu einer Witwe schickt, die ihn versorgt. Dann gibt er ihm den Auftrag, sich dem König von Israel entgegenzustellen. Die beiden vereinbaren so etwas wie einen Wettstreit zwischen Elias und den Propheten Baals. Das ganze Volk erscheint, um zu sehen, welcher Gott sich nun als der Wahre erweisen wird. Genau das ist nämlich die Herausforderung, derer sich Elias und die anderen Propheten stellen: Jede Partei bekommt einen toten Stier und soll erwirken, dass ihre Gottheit sie in Flammen aufgehen lässt.
Bei den Propheten des Baals sieht das Ganze in der betreffenden Bibelstelle so aus:
26 Sie nahmen den Stier, den er ihnen überließ, und bereiteten ihn zu. Dann riefen sie vom Morgen bis zum Mittag den Namen des Baal an und schrien: Baal, erhöre uns! Doch es kam kein Laut und niemand gab Antwort. Sie tanzten hüpfend um den Altar, den sie gebaut hatten.
27 Um die Mittagszeit verspottete sie Elija und sagte: Ruft lauter! Er ist doch Gott. Er könnte beschäftigt sein, könnte beiseite gegangen oder verreist sein. Vielleicht schläft er und wacht dann auf.
28 Sie schrien nun mit lauter Stimme. Nach ihrem Brauch ritzten sie sich mit Schwertern und Lanzen wund, bis das Blut an ihnen herabfloss.
29 Als der Mittag vorüber war, verfielen sie in Raserei und das dauerte bis zu der Zeit, da man das Speiseopfer darzubringen pflegt. Doch es kam kein Laut, keine Antwort, keine Erhörung.
Ich muss ehrlich sagen, als wir die Stelle im Unterricht lasen, musste ich fast lachen. Wie die Propheten umherhüpfen, um ihre – wie wir wissen – nicht existente Gottheit zu erreichen, hat mich ziemlich amüsiert. Elias Spott wirkt also mehr als gerechtfertigt, auch wenn es mir schon damals ein bisschen bitter aufstieß, dass die bedauernswerten Propheten sich die Gliedmaßen aufsäbelten, um eine Tierleiche zu grillen. Diese Textstelle ist jedoch gar nichts gegen den Chorgesang im Oratorium.
Hoffnungsvoll wird einem zumute, und irgendwie majestätisch und stolz, wenn die Baalspropheten aka die Sänger des Chores ihre Hymne an die Gottheit anstimmen. „Baal, erhöre uns“ tönt es aus allen Kehlen – doch erhört wird leider nichts. Das lässt Panik aufkommen, der Gesang wird hektischer, das Instrumentalspiel aufgeregter, es wirkt wuseliger und lässt einen an die herumspringenden Propheten denken. Lustig ist allerdings nichts mehr, denn in den Worten und der Musik ist ganz deutlich Verzweiflung zu spüren. Und zumindest ich habe, obwohl ich es gar nicht wollte, Mitleid bekommen. Mitleid mit diesen armen Geschöpfen, die sich so flehentlich darum bemühen, erhört zu werden, und einfach keine Antwort bekommen. Am Ende ihres Flehens angelangt, ist auch ihre Hoffnung verschwunden, nur noch vereinzelt hört man ein verzweifeltes „Gib uns Antwort!“…
Musik ist so mächtig, dass sie einem eine Meinung vortäuschen kann, die man selber gar nicht für sich annehmen möchte. Genauso ist es hier: Ich habe mir nicht freiwillig ausgesucht, mit den „Bösen“ dieser Geschichte mitzuleiden. Aber irgendwie tat ich es doch, so wie wenn man beim „Titanic“-Thema unweigerlich mitschluchzen muss. Ich möchte noch ein paar Beispiele mehr anbringen: Elias, der sich selbst bemitleidet und sterben will, was im Text so absurd, im Oratorium allerdings tieftraurig klingt. Das wütende Volk, das ihn zuvor quasi zum Tode verurteilt und donnernd „Er muss sterben!“ singt. Das dem Herrn dankende Volk, als er ihnen nach Elias Sieg gegen die Baalspropheten Regen schenkt. So viele Beispiele, die mich die Fähigkeiten der Musik hautnah spüren ließ. Sie kann eine Geschichte, so langweilig, einschläfernd oder merkwürdig sie auch sein mag, in ihren Grundfesten erschüttern. Sie kann sie komplett verändern, sie aufwühlen und die dahinterliegenden Gefühle aufdecken.
Und das ist wohl auch das Erfolgsgeheimnis hinter Kinofilmen mit einer platten Story: Wenn die Musik stimmt, wenn sie Atmosphäre schafft und uns den Saal mit einem prickelnden Gefühl im Bauch wieder verlassen lässt, sind wir trotzdem glücklich. Oder zumindest einigermaßen ergriffen. Und das funktioniert eben auch mit der Bibel.
Darum kann ich jedem, der eine langweilige Lektüre zu verdauen hat, den Zuckerguss unter den Zutaten künstlerischer Rezeption empfehlen: etwas Musik dazu, dann geht der Rest ganz von allein.