Die Dortmunder Inszenierung von “Der Theatermacher” ist so gefällig wie ein Thomas Bernhard Roman — nämlich überhaupt nicht. Warum wir uns trotzdem der Qual hingeben sollten. Eine Premierenkritik.
Meine Damen und Herren, herzlich Willkommen in Utzbach. Es ist Dienstag. Und Sie wissen, was das heißt. Im Gasthof “Schwarzer Hirsch” ist Blutwursttag. Aber es ist auch der Tag, an dem der großartige Staatsschauspieler Bruscon (Andreas Beck) sein Erstlingswerk “Das Rad der Geschichte” im heruntergekommenen Saal des Gasthofs aufführen wird. Stalin, Churchill, Hitler und Ghandi sollen auf dem staubigen Beton-Fußboden zwischen Feuermeldern und Feuerlöschern aufeinander treffen.
“Was? Hier? In dieser trostlosen Atmosphäre?” Bruscon, der Theaterdespot, wettert gegen Butzbach, das Theater (“In den berühmtesten Theatern von Deutschland wird heute gesprochen, das einer Sau graust”), seine Familie und das Leben. Mal provokant, mal klug, mal sexistisch, aber immer mit unfehlbar großer Geste. Nur eines ist Bruscon heilig: Die Kunst. Andreas Beck nimmt als Bruscon die Bühne vollständig ein. Widerwillig lässt man sich von seiner selbstgefälligen Verstimmtheit einlullen.
“Wer existiert, hat sich mit seiner Existenz abgefunden. So klein kann die Rolle gar nicht sein, die wir spielen, als das wir sie nicht nicht spielen.” – Bruscon in “Der Theatermacher”
Der Beginn des Stücks zieht seinen Witz aus dem Widerspruch zwischen dem allmächtigen Bruscon und der absoluten Unbedeutsamkeit seiner Umgebung. Der Utzbacher Wirt (Uwe Rohbeck), Bruscons Frau (Janine Kreß), seine Tochter (Xenia Snagowski) und sein Sohn (Christian Freund) sind zu beinahe stummen Komparsen degradiert. Sie spielen so wunderbar devot, dass es weh tut.
Die erste halbe Stunde hangelt sich “Der Theatermacher” überraschend vorschriftsmäßig an Thomas Bernhards Originaltext entlang. Überraschend deshalb, weil Kay Voges, Regisseur und Intendant des Schauspielhauses, in seinen Inszenierungen alles macht – alles außer normales Sprechtheater.
Wendepunkt. Das Stück bricht ab und nimmt erneut Anlauf. Alles auf Anfang. Vorhang auf. Noch einmal blicken wir auf die betonierte Tristesse des Utzbacher Saals. Nochmal Auftritt des Narzissten Bruscon. Nochmal der unterwürfige Wirt. Nochmal die devote Familie. Über der Bühne leuchtet jetzt statt der Zahl Eins eine große Zwei. Die Zahlenreihe geht bis zur Neun. Bitte nicht, Kai Voges, bitte nicht!
Das Publikum ist zerrissen. Ein Mann steht auf, murmelt “Das kenn ich schon” und schiebt sich an den Schienbeinen seiner Begleitung vorbei Richtung Notausgang. Nichts ist so quälend wie die Wiederholung. Trotzdem: Der Großteil der Zuschauer geht noch einmal mit, lacht noch lauter über die derben Sprüche des Bruscon.
Immer schneller dreht sich das Rad der Geschichte. Der Text wird zum Selbstläufer, tropft durch verschiedene Münder, spinnt sich weiter und führt sich letztendlich selbst ad absurdum. Bruscon muss zusehen wie seine Wahrheiten zum Witz verkommen. Seine Parolen werden zerstückelt. Die Dogmen so lange zerkaut, bis ihre Bedeutung verfliegt und neue Sinnzusammenhänge entstehen. Auf dem Kulminationspunkt tanzen drei Adolf Hitlers in schwarzen Ballettröckchen während ein Vokuhila-Punk-Verschnitt der einst braven Tochter ins Mikrofon grölt. Nach zweieinhalb Stunden springt die Zahlenreihe von acht auf neun. Und endlich – endlich werden wir aus der grell zuckenden Dauerschleife erlöst. Der Vorhang fällt. Das Ende des Theaters. Ist das das Ende des Theaters? Immer ein gutes Zeichen, dieses Fragezeichen am Ende eines Theaterabends. Prädikat: Ziemlich großartig.