Nieder mit den Illusionen!

Verdi, ein Panzer und ein Orchester, das die Kulisse stürmt: In Kooperation mit dem Verein Zuflucht Kultur e.V. bringt das Landesjugendorchester NRW seine erste Opernproduktion auf die Bühne. Freya Lintz und Ida Hermes waren bei den Proben.

Wassermassen stürzen hernieder. Der Himmel entlädt seine volle Naturgewalt auf das Turnhallendach des Rupert-Neudeck-Gymnasiums Nottuln. Etwa sechzig Jugendliche sitzen darunter, auf grüngrauen Metallstühlen, den Blick nach vorne gerichtet. Volle Konzentration. „Mehr stützen, mehr Klang!“, ruft Sebastian Tewinkel, doch die Worte des Dirigenten verenden in der unerbittlichen Gewitterwut. Alles vibriert. Nochmal Takt 61, gestikuliert Tewinkel und plötzlich scheint die Luft einmal mehr elektrisiert. Eine junge Frau tritt in die Mitte der Halle. Verzweifelt schraubt sie ihre Stimme in höchste Höhen, durch das Turnhallendach, ins Innere der Wetterzelle. „Eh bien! Donc, frappez votre père! Venez, de son meurtre souillé, traîner à l’autel votre mère!”, „So erschlagt denn Euren Vater! Schleppt, besudelt von seinem Blut, Eure Mutter vor den Altar!“ Wie ein Meteorit schlägt das Orchester hinein, treibt ihre Worte in die Urtiefen der Erde.

Opern-Handlung

„Es ist kompliziert“ – wie immer in der Oper. Ein Versuch:

Frankreich und Spanien um 1560. Es herrscht Krieg. Don Carlos, Sohn von König Phillipp II. von Spanien, und Prinzessin Élisabeth de Valois von Frankreich sind einander versprochen, lernen sich kennen und lieben. Doch die Geschichte nimmt eine erste tragische Wendung: Frieden kann nur geschlossen werden, wenn Élisabeth Phillipp II. selbst heiratet. Élisabeth willigt um ihres Volkes willen ein.

Es wird verzwickter und intriganter. Don Carlos will nur noch weg: nach Flandern. Élisabeth lehnt seine nach wie vor zu ihr entbrannte Liebe ab und sein bester Freund Rodrigue ist jetzt der engste Vertraute seines Vaters. Als er sein Schwert gegen seinen Vater erhebt, wird er verhaftet. Doch auch Rodrigue hat es nicht leicht: Er ist auf der Flucht, da belastende Papiere bei ihm gefunden wurden. Eine Kugel trifft ihn aus dem Hinterhalt. Sterbend teilt er Don Carlos im Gefängnis mit, dass Élisabeth ihn noch ein letztes Mal sehen möchte. Das Treffen gelingt, doch die beiden werden von Philipp II. und dem Großinquisitor überrascht. Ein alter Mönch rettet Don Carlos in die alten Klostermauern.

Schillers „Don Karlos“ diente Giuseppe Verdi als literarische Vorlage für sein Bühnenwerk. Im Stil der Grand Opéra ist sie eine von Verdis französisch-sprachigen Opern und wurde 1867 in Paris uraufgeführt. Verdi arbeitete „Don Carlos“ immer wieder um und schrieb auch eine italienische Fassung, die 1884 in Mailand zur Uraufführung kam.

Es ist das erste Mal, dass das Landesjugendorchester NRW eine Oper einstudiert. Und dann auch noch Don Carlos, Verdis Grand Opéra, die in ihrer französischsprachigen Urfassung beinahe wagner’sche Dimensionen erreicht. Viereinhalb Stunden volle Power – das ist für die erste Opernproduktion dann doch ein bisschen viel. Regisseur Bernd Schmitt ist also mit einem roten Stift durch die Partitur gefegt und hat alles rausgeschmissen, was ging. Die Chorszenen mussten schließlich dran glauben und so (tadaa!) sind ganz unwagnerische drei Stunden übriggeblieben. „Das ist doch eigentlich nichts Besonderes.“ Bernd Schmitt zuckt mit den Schultern. „Es wird kaum noch eine Oper von vorne bis hinten ohne Striche durchgespielt, da muss man einfach auf die Sehgewohnheiten der Menschen heute reagieren. Außer Peter Stein kommt ja auch niemand mehr auf die Idee, Faust I und II ungekürzt aufzuführen.“

Ein Rehkitz als Projektionsfläche für Videoinstallationen, ein hölzerner Panzer, Umrisse von toten Menschen. Regietheater vom Feinsten. „Und Don Carlos wird als Clown verkleidet!“ Einige LJOler sind begeistert, andere wissen nicht, was sie von dem Ganzen halten sollen. „Corridors of Power“ nennen Bernd Schmitt und Bühnenbildnerin Birgit Angele ihre Inszenierung, die Machstrukturen im Internet thematisiert. Wo laufen die Fäden zusammen? Wer kontrolliert das Spiel? „Wir glauben nicht, dass es einen bösen Mann im Hintergrund gibt, der alles lenkt und dem man am Ende die Schuld geben kann, sondern dass da bestimmte Systeme am Werk sind. Menschen lernen, sich dieses Systems zu bedienen, um erfolgreich zu sein. Doch sie merken nicht, was der Preis ist, den sie dafür bezahlen müssen.“

Schmitt verteilt die Rolle des Großinquisitors also auf zwölf Darsteller, sechs Sänger und sechs Tänzer. „Das System“, wie er es nennt, das König Phillip II. von Spanien für sich nutzt, ohne sich der Folgen bewusst zu sein. „Das ist genau das, was mit dem Internet heute passiert: Wir nutzen munter seine Vorteile und Funktionen – doch was unter der Oberfläche vor sich geht, bekommen wir in der Regel nicht mit.“ Allein der Musik geben Schmitt und Angele die Kraft, die Strukturen zu durchbrechen und einen Blick hinter die Szene zu offenbaren. Das Landesjugendorchester sitzt also mit auf der Bühne, jederzeit bereit, in das Geschehen einzugreifen. Es ist schließlich Verdi und nicht Wagner. Also nieder mit den Illusionen!

Aufführungen:

31. August, 18.30 Uhr, Premiere im Kulturhaus Lüdenscheid

25. September, 20 Uhr, Floralienhalle Gent, Flandernfestival

26. September, 20 Uhr, Floralienhalle Gent, Flandernfestival

07. Oktober, 18 Uhr, Theater Düren

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