Wenn man im Duden nach einer Wortdefinition für “Computerspiel” sucht, ist das Ergebnis einigermaßen merkwürdig: “Spiel, das mithilfe eines an einen Personal Computer angeschlossenen Monitors, der als Spielfeld, – brett dient, gespielt werden kann”. Die Definition ist nicht falsch. Sie erklärt die Welt der digitalen Spiele aber in etwa so vollständig als würde man schreiben “Musik – Ansammlung von Tönen”. Und sie irrt zugleich, denn digitale Spiele finden längst nicht mehr nur auf einem “Personal Computer” – kurz PC oder Computer – statt. Sie haben über diverse elektronische Geräte verteilt ihren Siegeszug durch die Gesellschaft angetreten. Und dennoch marschieren sie an einem Teil der Bevölkerung schnurstracks vorbei. Was hat es also mit diesem Medium auf sich ? Und was haben Computerspiele mit Musik zu tun?
“gewalttätig” – “neu” – “herausragend”
“Wortwolken” nennt der Duden sein neues Online-Feature, das häufig genutzte Verbindungen zu einem gesuchten Hauptwort anzeigt. Die drei Adjektive “gewalttätig, neu, herausragend”, die tatsächlich in Form einer Wolke an der Definition “Computerspiel” kleben, bringen die Gesamtheit des gesellschaftlichen Dilemmas fast schon auf den Punkt. Wo die eine Seite Innovation sieht, sieht die andere Gefahr. Dabei ist die Gewalt, für die Spiele immer wieder angeprangert werden, schon längst anerkannte Normalität in Büchern und Filmen. Inzwischen ist die landläufige Meinung auch nicht mehr, dass digitale Spiele Inkubatoren für Terroristen und Amokläufer sind – hinter sich gelassen hat das Computerspiel sein Stigma freilich deswegen noch lange nicht. Gleichzeitig ist es das erste Medium, das dem Traum des Gesamtkunstwerkes bereits extrem nah auf den Leib gerückt ist. Und obwohl Computerspiele schon einige Jahrzehnte existieren, ist diese Entwicklung noch relativ neu. In digitalen Spielen kommt alles zusammen: Malerei, Tanz, Theater, Erzählung, Dichtung, Schauspiel, Architektur. Und natürlich die Musik.
“Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er [d.h. unser Geist] nicht als die willkürliche mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.” (Richard Wagner)
Wagner, Musiktheater, Computerspiele?
Die Idee des Gesamtkunstwerkes ist in der Romantik, und besonders im musikalischen Kontext bei Wagner verwurzelt. Der gedankliche Sprung zu den heutigen Computerspielen dürfte Klassikbegeisterten hingegen schwer fallen. Spiele können immerhin in musikalischer Hinsicht kaum mit den Werken des Meisters mithalten. Oder etwa doch?
Dem Ideal des Gesamtkunstwerkes, das die Auflösung der einzelnen Künste und deren Verschmelzung zu einem neuen Ganzen fordert, nähern sie sich jedenfalls mit großen Schritten. Und dabei handelt es sich in diesem Zusammenhang noch um ein sehr junges Medium: “Vor zehn, fünfzehn Jahren waren die digitalen Spiele noch hauptsächlich kommerzielle Produkte. Etwas anderes war auch gar nicht möglich, weil die Produktionskosten so unfassbar hoch und die Produktionsmittel zum Teil gar nicht zugänglich waren”, so Martin Lorber, studierter Musikwissenschaftler und Ethnologe, seit 2004 für Electronic Arts tätig. Als derzeitiger Pressesprecher einer der größten internationalen Spielefirmen beobachtet er den wirtschaftlichen und kulturellen Markt der digitalen Spiele allein schon aus beruflichem Interesse. Er wäre der Letzte, der behaupten würde, die Spiele seiner Firma würden sich im Bereich der Hochkultur ansiedeln lassen:
“In der Mainstreamproduktion geht es nicht so sehr um künstlerischen Anspruch, sondern eher um Qualität und Spaß. Und wenn man es von einer musikwissenschaftlichen Warte aus betrachtet, ist das Meiste, was in Filmen und Spielen an Musik produziert wird, altbekannt und nichts besonderes. Es ist gut gemacht, hat aber in keinster Weise den Anspruch, die Ohren zu öffnen, etwas Neues zu machen, etwas nie Gehörtes zu produzieren.”
Ist der Hype um Spiele also nur heiße Luft? Ist nichts künstlerisches an dem neuen digitalen Medium zu finden? Die Antwort ist ein klares ‘Jaein’: “Digitale Spiele repräsentieren das, was unsere digitale Kultur prägt: Interaktivität und Partizipation. All diese Dinge können Filme und Bücher nicht bieten. Im Gegensatz dazu bin ich jedes Mal, wenn das Spiel gespielt wird, gleichzeitig Rezipient und auch Gestalter. Es gibt eben die reine Unterhaltung und den Mainstream genauso wie die anspruchsvollere Unterhaltung und die künstlerische Produktion. Und überall da gehören Spiele hin. Das, was in diesem Medium möglich ist, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Jedenfalls noch in gar keinster Weise im Bereich der musikalischen Gestaltung.”
Teilnahme an Kunst
Wie es scheint, sind die digitalen Spiele in unserer Gesellschaft angekommen, ohne bereits ihren Platz gefunden zu haben. Sie sind Sport, Lernapparat, Nachrichtenvermittlung, Aufklärungshilfe, Unterhaltung. Und Kunst. Wenn man es sich einfach machen will, ordnet man ihren künstlerischen Aspekt kategorisch der Popkultur zu. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Computerspiele beginnen langsam aus ihrer kommerziellen Schale zu schlüpfen. “Wir erleben seit einiger Zeit eine Demokratisierung der Produktionsmittel”, so Martin Lorber. “Jeder kann ein Spiel entwickeln, die Softwareumgebungen sind zum Teil kostenlos. Jeder kann zuhause, so er die Kapazitäten besitzt, ein Computerspiel entwickeln und es der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.” Und diese Verfügbarkeit der Produktionsmittel bringt eine Welle an individueller Gestaltung und auch Kunstprojekten mit sich. Der innere Kern ist dabei immer die spielerische Freiheit: Teil des Werkes werden, selbst die Handlung lenken, selbst gestalten – Aspekte, die eine neue Dimension zum Ideal des Gesamtkunstwerkes hinzufügen könnten. Kann und sollte die Musik in diesem Zusammenhang dann überhaupt einzeln betrachtet werden? Vielleicht. Aber auch als Teil des Ganzen.
Kunst in Bewegung (Matthias Kreienbrink, FAZ 11.01.2018)
Ästhetik der Ganzkörperzeichen (Martin Burckhardt, FAZ 04.06.2009)
“Computerspiele sind ein Kulturgut” (Interview mit Jeffrey Wimmer, FAZ 10.03.2011)
Was wurde aus der Killerspiel-Debatte? (Markus Böhm, Der Spiegel 25.09.2015)
Computerspiele können die Werte einer Gesellschaft beeinflussen (Planet Interview, 03.07.2008)
Bildcredits:
Erstes Bild: Screenshot
Zweites Bild: Condorito como Richard Wagner/ Vintage Chile / flickr.com / (CC BY-NC 2.0)
Drittes Bild: Statistik Game – Verband der deutschen Games-Branche
Beitragsbild: Garon Piceli / flickr.com / (CC0 1.0 Universal)
Artikel um weiterführende Texte ergänzt: 23.08.2018