Mit Claude Debussys “Pelléas et Mélisande” startet die letzte Ruhrtriennale unter der Intendanz von Johan Simons. Regisseur Krzysztof Warlikowski inszeniert die Oper als Zustand zwischen Erstarrung und vergeblichen Ausbruchsversuchen.
Alle Fotos: © Ben van Duin / Ruhrtriennale 2017
Mühsam zurückgehaltene Gefühle brodeln unter der Oberfläche. Aufrecht erhaltene Fassaden bröckeln und fallen. Die Königsfamilie von Allemonde ist in ihrem Alltag erstarrt und unfähig, daraus auszubrechen. Mélisande kommt als Außenseiterin hinzu und könnte die dringend benötige Abwechslung bringen. Doch die Familie ist nicht fähig, sich zu befreien und auch Mélisande kämpft mit ihren eigenen Erinnerungen. “Pelléas et Mélisande” ist kein leichtverdauliches Unterhaltungstheater, sondern ein psychologisches Drama, dessen Protagonisten man teilweise mit Unverständnis gegenüber steht.
Krzysztof Warlikowski stellt der Inszenierung einen Prolog nach dem Film “Reconstruction” von Christoffer Boe über das Aufeinandertreffen und die beginnende Liebe zweier Menschen voran, die nach einiger Zeit in den Abschied mündet. Alles wiederholt sich, Begegnung und Abschied sind Teil eines Kreislaufs, den auch die Beziehung zwischen Golaud und Mélisande durchläuft.
Das Gefühl der Ausweglosigkeit und Bedrohung verstärken auch die Videoprojektionen von Delil Aziz, die einen großen Bestandteil der Inszenierung ausmachen. Nahezu das gesamte Stück über werden die Handlungen der Darsteller live auf unterschiedlichen Bildschirmen übertragen. Die überwiegend in schwarz-weiß gehaltenen Ausschnitte erinnern in ihrer Ästhetik an die Stummfilme des letzten Jahrhunderts, ermöglichen neue Blickwinkel und machen das Gefühlsleben der Protagonisten, ihre Ängste und ihre Gedanken greifbar.
Die Figuren blicken wie unbeteiligte Zuschauer auf das Geschehen, auch ihre Handlungen sind durch Starrheit geprägt, indem sie oft über mehrere Szenen hinweg bewegungslos auf der Bühne liegen, stehen, sitzen oder sich gegenseitig beobachten, während sich die Tragödie an anderen Plätzen fortspinnt. Das erzeugt eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse und ein Nebeneinandersein von Ideen, die sehr reizvoll anzuschauen sind, aber bei einer Gesamtlänge von fast vier Stunden auf die Dauer anstrengend werden. Das Bühnenbild von Małgorzata Szczęśniak bildet mehrere Welten nebeneinander ab. Waschbecken reihen sich an die moderne Bar auf der rechten Seite an, die wiederum nahtlos in das mondäne, holzvertäfelte Zimmer des Schlosses auf der rechten Seite übergeht. In die Handlung eingebunden sind auch zahlreiche Statisten, die die Atmosphäre der Szenen durch ihre starke Präsenz verdichten.
Optisch sind die Personen einander klar zugeordnet beziehungsweise voneinander abgegrenzt, sodass Mélisande in ihrem Blumenkleid und den zerzausten Haaren bei ihrem Eintreffen im Schloss wie ein Fremdkörper wirkt. Sie ist offensichtlich traumatisiert, starrt ins Leere, tanzt gedankenverloren und raucht nahezu die ganze Oper hindurch. Ihr Verhalten ist von Gegensätzen geprägt: mal zerbrechlich und abweisend, mal aufreizend begegnet sie Golaud und Pelléas, nicht alle dieser Stimmungen sind nachvollziehbar. Die international renommierte Sopranistin Barbara Hannigan interpretiert die Partie schauspielerisch und gesanglich hervorragend. Durch die Kameras wird ihr Gesicht, auf dem sich die unterschiedlichsten Emotionen spiegeln, oft in Nahaufnahme gezeigt. Gesanglich bleiben vor allem die leichten, innigen Töne Mélisandes in Erinnerung, in denen Hannigan die Zerbrechlichkeit der Figur zum Ausdruck bringt.
Phillip Addis als Pelléas und Leigh Melrose als Golaud sind nicht nur optisch als ungleiche Brüder gekennzeichnet. Golauds Eifersucht und Jähzorn, die von Leigh Melrose sowohl stimmlich als auch darstellerisch auf den Punkt getroffen werden, treten früh zutage, während Pelléas sich anfangs eher zurückhaltend verhält. Nach und nach beginnt er jedoch ebenfalls damit, Mélisande als sein Eigentum zu betrachten, was von Philipp Addis überzeugend dargestellt wird. Auch die anderen Solisten gestalten glaubwürdige Rollenportraits. Vor allem Franz-Josef Selig als König Arkel scheint als einziger zu Mitleid im Stande zu sein und ist Mélisandes letzter Anker. Diese Wärme der Figur transportiert Selig auch in seiner Stimme.
Dem Orchester kommt eine psychologisierende Funktion zu, indem es die Seelenzustände und vor allem die nicht ausgesprochenen Gedanken und Erwartungen der Figuren ausdrückt, die allgegenwärtig sind. Dirigent Sylvain Cambreling gilt als Spezialist für “Pelléas et Mélisande”. Sicher und sensibel führt er das Orchester durch den Abend und erschafft so einen Klangteppich von großem Gefühlsreichtum.
Das Geschehen auf der Bühne rennt gegen Wände, die Ausbruchsversuche der Charaktere scheitern oder führen zu gegenseitiger Zerstörung. Zurück bleibt ein Gefühl von Machtlosigkeit und innerer Leere, das auch nicht vor den Zuschauern Halt macht. Es herrscht vollkommene Stille, erst nach kurzer Anlaufzeit hebt der Applaus an. Dann jedoch brandet er begeistert los und das Publikum honoriert die großartigen Leistungen des gesamten Ensembles.