„Berührung war Gewalt. Sie waren Liebende, und ihr Scheitern war Jahrhunderte alt“, lese ich während des Konzerts leise das Gedicht mit. Die Texte des thüringischen Schriftstellers Wolf Wondratschek sind anrührend und tiefernst. Mehrmals begegnete ihm Wolfgang Rihm und vertonte einige seiner Werke, darunter „Abschiedsstück 1“ und „Abschiedsstück 3“ für Frauenstimme und kleines Orchester.
Im Orchester sind neben Streicher*innen und Bläser*innen auch zwei Schlagzeuger, eine Harfenistin, ein Akkordeonist sowie ein Pianist. Die Musiker*innen ummalen die helle Stimme von Sängerin Karen Motseri, akzentuieren und machen da Lärm, wo es mal weh- und mal guttut. Motseri, Spezialistin für die Interpretation zeitgenössischer Musik, flüstert, stottert, singt und schreit Wondratscheks Worte, denen Rihm durch seine Musik auch noch seine eigene Stimme hinzugefügt hat.
„Abschiedsstück 3“ endet mit „Dein Flugzeug ist schon jetzt kleiner als ein weggeworfenes Streichholz“ und Motseri verläßt die Bühne. Es folgt das umfangreichere Stück des Abends, das „Concerto Séraphin“ für 16 Spieler*innen. Seit den 70er Jahren beschäftigte sich Rihm immer wieder mit Theaterschriften des Schriftstellers und Theatermachers Antonin Artaud. Oftmals war für Rihm der Text „Le Théâtre de Séraphin“ ein Initialpunkt für gleich mehrere Stücke.
Das „Concerto Séraphin“ entstand zwischen 2006 und 2008 und ist eine Neukomposition aus Rihms Musik „Séraphin III – I am a mistake“. Die ursprünglichen Vokalpartien (zwei Baritone und eine Sprecherin) hat Rihm in der neuen Komposition weggelassen. Hier wird ein von Rihm oft angewandtes Konzept aus der Malerei sichtbar: die Übermalung. Rihm überschreibt ältere Partituren und trägt neue Schichten auf. Der Komponist selbst sagt: „Ich fasse die Zeit wie eine Membran, wie einen Malgrund auf und trage darauf meine Musikschrift, die Klangzeichen auf.“
Während des ganzen Konzerts zieht mich die Energie der Musiker*innen in ihren Bann und ihre Gelassenheit beim Spielen entspannt mich. Bald schweifen meine Gedanken umher und sind doch komplett in die Musik vertieft. Den hervorstechenden instrumentalen Part übernehmen im „Concerto Séraphin“ zwei Pianisten und zwei Schlagzeuger. Immer wieder wirbeln verschiedene Schlägel und Klavierhämmerchen virtuos im Raum und bewirken dichte Klangelemente. Die verschiedenen Stimmen der Instrumentalist*innen greifen so gut ineinander, dass sie oft wie ein einziges Instrument wirken. Dirigent Enno Poppe vollzieht dazu vor dem Orchester seine eigene kleine tänzerische Choreographie, zeitlich perfekt abgestimmt. Langsam kommen alle Instrumente zur Ruhe und meine Gedanken leise wieder ins Hier und Jetzt. Laut hallen Worte und Musik in mir nach.