Achtung, Spucke!

Die Sopranistin Sarah Maria Sun umgarnt das Publikum am Freitagabend im Dortmunder Konzerthaus mit neuer Musik. Funktioniert das? Ja, wunderbar: von Freak zu Freak!

Sarah Maria Sun mit Chamäleon von Rüdiger Schestak

Sarah Maria Sun. Sie steht, den leeren Konzertsaal im Rücken, alleine an der Rampe. Sie kriecht auf allen Vieren, sie schlägt sich selbst ins Gesicht, röchelt, kreischt, fiept, hustet, jodelt und stöhnt. Man fragt sich: Warum tut diese Sängerin sich das an?

Sun ist eine Ausnahmesopranistin mit Ausnahmerepertoire, spezialisiert auf vorrangig zeitgenössische Werke und hat schon über 300 Uraufführungen gesungen. Sie ist extrem gefragt, tritt überall auf, in Salzburg oder Luzern, Paris oder Hamburg, und während wir Normalos schlafen oder unsere Schuhe putzen, tourt sie um die Welt, um auf die kleinen und großen Bühnen zu spucken. 

Sarah Maria Sun ist kein „normaler“ Mensch. Sun bezeichnet sich selbst als Freak. Bei der Abo-Reihe „Musik für Freaks“ im Dortmunder Konzerthaus sitzt das Publikum an diesem Abend im Halbkreis auf der Bühne, rund hundertsechzig Leute – erstaunlich gut besucht für ein rein aus zeitgenössischen Kompositionen bestehendes Solo-Programm, mit Stücken von John Cage, Rebecca Saunders, Georges Aperghis, Luciano Berio und Luigi Nono. Dazwischen plaudert Sun auf eingängige Weise spielerisch leicht über Inhalt und Struktur der Musik, zum Beispiel über „O“ von Saunders, der einzigen weiblichen Komponistin des Abends. Zum Glück nicht die einzig starke Frau! Das Werk ist für Sarah Maria Sun gemacht. Ihre sonnendurchströmte Stimme wandert durch Register und Frequenzen, wie ein Klang-Chamäleon. Fischige Walgesänge unterbrechen einatmend ausgespuckte Konsonanten, taubenartiges Obertongegurre. 

Luciano Berio, als einer der ersten auf der Suche nach unverbrauchten Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme, vollendete 1966 „Sequenza III für Frauenstimme“, ein kleines Musiktheaterstück, sogar mit Gegenwartsbezug: Der starke Text von Markus Kutter schlägt sich auf die Seite der sich frei bewegenden, selbstbewussten Frau, passend zur Me-too-Debatte. Das fordert athletische Kräfte von Sarah Maria Sun, sie wirft sich ins Zeug, Schläge fallen, ihre Steckfrisur löst sich, ihr Absatz bleibt im Parkett stecken, ihr Kleid reißt. Aber sich dadurch aus dem Takt bringen lassen? Nicht Sun: „Without worrying“! Als wäre das alles geplant gewesen, verkauft sie den Fauxpas als gewollt, sie baut ihn ein in ihre szenisch starke Interpretation. Was ihr vielleicht an Lässigkeit fehlt, macht sie wett durch Intensität und Charisma. Eine mitreißende Performance! 

Eine Künstlerin, bei der nicht nur Spucke und Schweiß fließen. Sarah Maria Sun ist ein echter Freak. Das ist nicht einfach. Sie steht für alles, was schwierig ist. Ihre Kraft, ihre Extremität und ihre Einzigartigkeit macht Hoffnung auf eine freakige Zukunft.

Beitragsbild: © Rüdiger Schestag

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