Palimpsesto:
geschichtete Kulturwelten

Georgian_Palimpsest

Mittelalter-Recycling als Konzept für Neue Musik.

Ein Palimpsest, das ist ein mehrfach beschriebenes Pergament. Ein erster Text wird abgeschabt, um Platz für neues zu machen. Unter der neuen Beschriftung überleben alte Bedeutungen und drängen zwischen andere Gedanken.

Dieses Konzept hat das Zafraan-Ensemble auf Musik übertragen und fünf Werke spanischer zeitgenössischer Komponisten eingespielt. Wie funktioniert mittelalterliches Recycling mit Musik?

Der spanische Komponist und Klarinettist Miguel Pérez Iñesta holt ein Werk für Laute von 1538 ins Jetzt. Durch Neuarrangement erhält es Klang der Gegenwart, hier das Ausgangswerk:

Bei den anderen vier Werken erschließt sich das Konzept nicht so offensichtlich: zeitgenössische Werke sollen auf ihre traditionellen Einflüsse untersucht werden. Die Musiker agieren dabei virtuos an ihren Instrumenten, dazu noch gemeinsam als Ensemble. Obwohl alle Werke von unterschiedlichen Komponisten stammen, haben sie Gemeinsamkeiten: Klangflächen, durchbrochene Satztechnik, extreme Klänge durch extreme Spieltechnik und im klassischen Sinn ungewöhnliche Kombinationen von Instrumenten.

Natürlich kommen viele dissonante Klänge vor. Die führen oft zu leeren Konzertsälen, beim Zafraan-Ensemble verpassen Daheimbleiber allerdings nicht nur Musik. Es werden auch Kunstwerke und Gedichte, etwa auf Arabisch oder Spanisch, präsentiert. Das Publikum soll mit Reizen überflutet werden. Desorientierung darf sein. Jeder Zuhörer muss filtern, was er aufnehmen kann. Live interagieren die Künste beim Rezipienten ziemlich gleichberechtigt.

Dieses Live-Konzept geht für mich in der CD-Produktion nicht vollständig auf. Der Fokus liegt bei der Musik, bildende Kunst findet sich in der Graphischen Gestaltung der Verpackung und im Booklet. Dort stehen neben einem Essay auch fremdsprachige Gedichte, doch anders als im Konzert entfalten sie geschrieben keinen Klangzauber. Ein einziges wird vom Dichter auf der DVD vorgelesen, dazu gibt es noch ein Musikvideo in Form einer Entfesselungsperformance, bei der die Künstlerin kopfüberhängt und langsam aus Seilen ausgewickelt wird.

Die Produktion ist kein Palimpsest im ursprünglichen Sinn: Durch Zufall verschmelzen alte Schriftstücke mit neuem Gedankengut. Im Konzept des Zafraan-Ensembles werden sehr verschiedene Welten bewusst zusammengeführt und übereinander gelegt. Was daraus wird, liegt allein beim Rezipienten.

Am Ende ist das aber gar nicht wichtig. Palimpsesto regt zur Beschäftigung mit unbekannter neuer Musik an, das Konzept dahinter kann Publikum, Musiker, bildende Künstler, Komponisten und Dichter verbinden. Das ist mir lieber als ein Werkkanon, der immer neu aufgenommen und aufgeführt wird, leider oft ohne Perspektiven zu eröffnen.

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