Das Klavier-Festival Ruhr hat zum letzten Abend geladen. Igor Levit, das WDR-Sinfonieorchester und Hannu Lintu lachten, feierten und schwitzten in der gekühlten [draußen: 37 Grad!] Philharmonie Essen. Der Abend war gespickt mit exzellenter Spielfreude und einer Prise Hedonismus.
Angekündigt sind nordische Klänge – doch nichts da! Der Schöpfer der Helios-Overtüre ist zwar der Däne Carl Nielsen, komponiert wurde sie aber in Athen. Den Akt der auf- und untergehenden Sonne über dem ägäischen Meer muss man nicht hören, wichtiger ist der Farbverlauf von dumpfer Dunkelheit zu grellem Licht. Mitten in diese Entwicklung platzt die Fuge herein. Die Motive der Geigen besprenkeln den Blechteppich. Es klingt, als ob das Orchester, mit freundlicher Genehmigung ihres Dirigenten Hannu Lintu, mal die Sau raus lassen will, keineswegs ganz ungezügelt, aber gierig.
Die Tür geht auf. Igor Levit marschiert schnurstracks zum Flügel, ein Seitenblick zum Publikum und von den Lippen liest man ein Hallo. Levit nimmt Platz und spielt Theater: Tiefes Einatmen. Puh! Er zieht das Sakko aus. „Wie sympathisch“, raunen die Damen. Applaus Nummer Eins.
Das Konzert für Klavier und Orchester von Edvard Grieg fällt, wenn man nicht aufpasst, leicht in den Kitschabgrund. Paukenwirbel als Rampe für die Akkordverschachtelungen durch die komplette Klaviatur. Levit hält dagegen, unterteilt die ersten Figuren in Einzelimpressionen, verbietet den Noten jegliches Klimbim. Er ist heute eher der Jazzpianist, der Lichtblicke gibt in der verrauchten Bar, wunderbar sacht und ungezwungen.
Es ist kein Einklang zwischen Orchester und Flügel, eher eine Koexistenz. Das Orchester wird in kurzen Etappen geführt, der stehende Sofortklang zählt viel mehr als die Fortspinnung. Levit dagegen interpretiert die Phrasen aus einem Zentrum heraus, es gibt immer Mittelpunkt und Spitze. Bei ihm regiert nicht der einzelne Moment, sondern der Weg von A nach B, die Transformation des Materials.
Dieses Nebeneinander von Levit und WDR-Sinfonieorchester stößt Einen auf die Stuhlkante: non plus ultra. Die Musiker lassen Peitschenhiebe prasseln, Levit umgarnt dagegen mit Lyrik. Es ist kein Dialog, weil beide Seiten nicht daran denken, von ihrem Standpunkt abzuweichen. Meinungspluralismus.
Nach dem Klavierkonzert ist es Zeit für einen Zuckerl. Eleonore Büning, erste Vorsitzende vom „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ händigt Levit den Jahrespreis aus. Levit sei keine Alltagsfliege, bringe die Noten zum Sprechen.
Wer Igor Levit kennt, weiß, wie gerne er spricht. Er schnappt sich das Mikro und witzelt vor sich hin. Man mag dabei ein wenig die Augen verdrehen, setzt er sich dann ans Klavier, ist das vergessen. Er spielt von Ronald Stevenson – der in diesem Jahr verstorben ist – die „Phantasy on Peter Grimes“. Noten gibt es keine, Levit zückt sein Tablet. Die Hommage an Benjamin Britten ist ein kauziges Stück, erinnert weniger an die Oper, als an die „sea interludes“. Frisch, bizarr und abgründig.
Levit ist twitterabhängig.
In der zweiten Hälfte marschiert auch das Orchester nur in Hemden auf die Bühne, sie haben gegen die Entscheidung zur Frackpflicht rebelliert. Die Sinfonie Nr. 2 von Jean Sibelius treibt Schweißperlen auf die Stirn. Das Orchester hat einen Mordsspaß, die Instrumentenmöglichkeiten maximal auszuschöpfen, sodass man die Glosse von T.W. Adorno über Sibelius vergisst. Man merkt: Hörererwartung und Orchesterperspektive liegen meilenweit auseinander. Die dickköpfigen zweiten Violinen lassen schmunzeln und geben Farbe. Es ist ein Werk mit Riesengesten, Ausbrüchen und Steigerungen, mal reinster Klamauk, mal scheint etwas Tiefsinniges durch.