Am Samstag habe ich mir die Premiere des Musicals „Linie 1“ zur Wiedereröffnung der Jungen Oper Dortmund angesehen. 1986 wurde das Theaterstück in Berlin uraufgeführt, bis heute gab es dort mehr als 1800 Vorstellungen. Über 30 Millionen Zuschauer haben es weltweit gesehen.
Als ich die Junge Oper betrat und mir einen Platz suchte, saß ich quasi mitten in der U-Bahn-Linie 1. Durch die Kostüme und das Bühnenbild habe ich mich so gefühlt, als wäre ich in den 80er Jahren.
Während der Vorstellung begegnet man verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Charakteren und ihren Geschichten, wie zum Beispiel: reiche Witwen, Obdachlose, Glücksuchende, Verrückte und viele mehr.
Im Interview mit Terzwerk spricht Regisseur Alexander Becker über die Relevanz des Stückes in der heutigen Zeit und welche Herausforderungen es für die junge Oper und deren Ensemble stellt.
Terzwerk: Weshalb haben Sie genau das Stück für die Wiedereröffnung der Jungen Oper gewählt?
Becker: Nun, wir suchten ein Stück, wo wirklich viele Menschen zusammenkommen. Wir wollten bewusst viele Generationen mit einbringen, was mit diesem Stück wunderbar gelingt. Das hat man nicht immer. Die Musik ist hier auch ein großer Pluspunkt, da sie für die Jugendlichen wahnsinnig gut zu singen ist. Wir wollten erstmal etwas leichtes, was aber auch ein bisschen Anspruch hat. Da war “Linie 1” einfach ideal für. Ich denke, dass es auch für die Zuschauer ein ganz besonderes Erlebnis wird.
Terzwerk: Sie arbeiten hier mit Jugendlichen ab 11 Jahren und Erwachsenen über 50 Jahren zusammen. Wie war die Arbeit mit Menschen so unterschiedlichen Alters? Gab es Schwierigkeiten?
Becker: Nein, es gab keine Schwierigkeiten. Ganz im Gegenteil, da sind so wunderbare zwischenmenschliche Verhältnisse entstanden. In diesem Stück hat man vom Penner, über die Rentnerin, bis zum Jugendlichen ganz verschiedene Charaktere vereint -und dafür braucht man natürlich Personal. Ich möchte ja nicht, dass die Jugendlichen auf alt geschminkt werden, was dadurch unauthentisch wirkt. Außerdem gibt es in diesem Stück auch Rollen, die nur Ältere singen können. Aber durch diese Zusammenarbeit und diese Verbindung, die sich bei den Proben entwickelt hat, ist hier eine kleine Familie entstanden. Alle passen aufeinander auf, sind aufmerksam und das schweißt unheimlich zusammen. Das macht auch diese “Linie 1” aus, dass wir viel Potenzial und Energie von unterschiedlichen Generationen auf der Bühne haben.
Terzwerk: In dem Musical “Linie 1” arbeitet die Junge Oper mit der Musikschule Dortmund zusammen. Hat das von Anfang an harmoniert?
Becker: Es war von Beginn an eine sehr gute Sache. Bei Jugendprojekten kommt es zu Kooperationen mit verschiedenen Einrichtungen und wir schauen dann, wer Potenzial hat mit uns so eine Sache zu stemmen. Das ist ein großes Abenteuer, weil die Beteiligten, die mitgehen, meist wenig Theatererfahrung haben. Insofern ist diese Zusammenarbeit mit der Musikschule äußerst fruchtbar, weil dadurch viele Menschen, die mit uns auf der Bühne stehen, eine Möglichkeit haben, ganz anders Musical, Musik und Theater zu erleben. Bandleiter Rüdiger Albers hat eine große Band zusammengestellt und das war natürlich ein Glücksgriff. Wir sind alle wahnsinnig froh, dass diese Kooperation zustande gekommen ist. Und ich glaube, dass auch für die Zukunft noch weiteres denkbar ist.
Terzwerk: In dem Musical wird man mit Themen wie Drogen, Prostitution, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit konfrontiert. War das eine Herausforderung, gerade auch für die etwas jüngeren Mitglieder?
Becker: Naja, eigentlich nicht so richtig. Die Herausforderung liegt ja klar darin, das zu spielen. Es ist natürlich viel näher an uns dran als z.B. Shakespeare oder anderes klassisches Theater. Auch wenn es hier „nur“ der Penner ist, oder der Drogensüchtige, der Stadtstreicher, den es ja auch nicht mehr so wirklich gibt. Diese Figuren, die da auftauchen, kennt man einfach. Das sind Figuren, da sagt man: „Ah, da kann ich mich vielleicht sogar mit identifizieren“. Lilli Schnabel spielt die Hauptrolle, das Mädchen, und sie kann das nachvollziehen, weil sie diese Gefühle versteht. Es gibt extreme Momente, wie zum Beispiel ein Mädchen, das eine Drogensüchtige spielt, die sich umbringt. Aber das ist auch die Herausforderung, solche Szenen mit den Darstellern zu erarbeiten.
Terzwerk: Was war denn die größte Herausforderung?
Becker: Also die größte Herausforderung ist es, dass „Linie 1“ sehr kleinteilig ist. Es gibt 21 Darsteller und jeder dieser Darsteller hat ca. 6 Umzüge. Das heißt, sie müssen 6 Rollen spielen. Das ist durch den kleinen Raum logistisch schon schwierig für dieses Theater, was aber auch wiederum gut fürs Stück ist. Alle werden umgeschminkt, es ist ein dauernder Prozess, jeder geht von der Bühne ab, muss sich umziehen, wird geschminkt, tritt wieder auf, hat eine neue Rolle. Bei Musicals muss es immer lebendig bleiben und das ist für alle ein Kraftakt. Das Timing des Musicals zu schaffen, ist nicht nur für die Darsteller, sondern auch für andere Abteilungen wie den Ton und die Maske eine Herausforderung.
Terzwerk: „Linie 1“ ist schon über 30 Jahre alt. Hat es noch immer gesellschaftliche Relevanz?
Becker: Ja, hat es. Das Stück spielt 1986, wir dürfen da auch nichts am Ort oder den Jahreszahlen verändern. Das sagt der Verlag. Man hat hier viele politische Anspielungen, da gibt es dann Homosexuellen Feindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, alles das, was irgendwo auch heutzutage immer wieder da ist. Und dann erwischt man sich dabei und denkt, naja 86 und heute, das ist irgendwie, ich will nicht sagen fast gleich, allerdings kommt es heute immer noch vor. Probleme mit Drogen, Arbeitslosigkeit, Träumen nach mehr, Verlorenheit, Liebe, das sind alles Themen, die so unfassbar greifbar nah sind. Und wenn ich jetzt hier an den Bahnhof gehe, ist es wahnsinnig interessant. Mir laufen immer die Figuren entgegen, die ich quasi im Stück habe. Von dem her ist es schon relativ da, auch jetzt 30 Jahre später. Der Humor vor 30 Jahren ist natürlich ein bisschen „altbacken“. Aber auch der funktioniert.
Fotocredits
Hintergrundbild: U-Bahn Woman / flickr.com / Onno Vandelaak / CC BY 2.0
Bild 1: Regisseur Alexander Becker / Björn Hickmann
Bild 2: Lilli Schnabel (Mädchen), Ensemble / theaterdo.de / Björn Hickmann / stage picture
Bild 3: Das Ensemble von “Linie 1” / theaterdo.de / Björn Hickmann / stage picture
Beitragsbild: Paul Littich