“Besinnlichkeit am Arsch” – Eine weihnachtliche Kurzgeschichte

„Rrrrring.” Ach nein, doch nicht jetzt schon, denke ich, während mein Handywecker mir ins rechte Ohr schreit. “Rrrrrring.” Nach zweimaligem Drücken der Schlummertaste und einem inneren Kampf mit meinem heute fast unbezwingbaren Schweinehund stehe ich schließlich auf. Die Kälte, die mich trifft, sobald ich meinen Wärmeschild – die Bettdecke – zur Seite geschlagen habe, möchte ich mit einem Tee bezwingen. Auf dem Weg in die Küche schlendere ich an meinem Adventskalender vorbei, um das heutige Türchen zu öffnen. Es ist die Nummer 22. Kaum habe ich das Pappfenster geöffnet, blitzt mir nicht nur die von mir sehr verehrte Lindtschokolade entgegen, nein – im Zimmer nebenan dreht mein Mitbewohner auch schon seine Boxen auf. “Last Christmas I gave you my heart“, singt George Michael dumpf aber laut genug durch die zwei Türen hindurch. Ich verdrehe die Augen. Seit einer Woche schon hört mein Mitbewohner dieses Lied rauf und runter. Für mich sind Weihnachtslieder wie ein Witz bei dem keiner lacht. Durchs Wiederholen werden diese auch nicht besser. 

Ich greife in das Türchen, esse die Schokolade und gehe in die Küche. „LAST CHRISTMAS“ verfolgt mich bis zur Schublade für den Tee. Ich gucke hinein und stelle fest, dass nur noch eine Teesorte da ist. Besinnlichkeit steht auf der Packung. „Besinnlichkeit am Arsch“, murmle ich leise und werfe den Tee zurück in die Schublade. 

Auch während meines Frühstückes, bestehend aus zwei Stücken kalter Pizza Tonno, sauren Gurken und einer Handvoll Popcorn, kann ich Last Christmas nicht aus meiner Wahrnehmung ausblenden. Es läuft jetzt schon zum neunten Mal. Ich frühstücke wohl einfach zu langsam, denke ich und gehe genervt auf die Tür zu hinter der die Musik spielt. „Maurice“, rufe ich und klopfe gegen die Zimmertür meines Mitbewohners. Keine Antwort. „MAURICE“, schreie ich mit meiner brüchigen ,„Ich-bin-gerade-aufgewacht” – Stimme. Dazu haue ich – in der Hoffnung mehr Kraft zu haben – mit dem Kopf gegen seine Tür. Maurice öffnet und schaut mich erwartungsvoll an.

Ich reibe mir die Stirn. „Das Lied hörst Du aber sehr oft.“, rufe ich. „Was?“ – „Du hörst das Lied sehr oft!“, rufe ich erneut und zeige auf seine Boxen. „Ja ich weiß, du hast geklopft.“, brüllt er zurück und grinst mich so einladend wie fragend an. Ich hole tief Luft und brülle: „Kannst Du bitte ein anderes Lied anmachen?“ – „Welches denn?“, schreit Maurice zurück „Keine Ahnung!“, brülle ich. „Du musst doch wissen welches!“, schreit mein Mitbewohner. In mir kommt der Gedanke hoch, wie albern die Szenerie für Außenstehende aussehen muss. Sowohl Maurice als auch ich stehen in Unterhose einen halben Schritt voneinander entfernt im Türrahmen und unterhalten uns in einer Lautstärke, als würden zwischen uns zwei Fußballfelder liegen. Ich trage zudem meine hässlichen Crox mit Fellbezug, Maurice hat als Ergänzung zu seinen Boxershorts nur noch eine kitschige Weihnachtsmütze auf dem Kopf. 

„Ich weiß es aber nicht, irgendeins!“ – “Du musst doch wissen was du hören möchtest!“, ruft Maurice. „Na gut!”, rufe ich. „Dann halt was von Taylor Swift.“ Warum Taylor Swift, denke ich. Die höre ich nie. „Warum was von Taylor Swift?“, ruft Maurice. “Die hörst Du doch nie.“ Meine Stimme wird heiser von dem ganzen Geschrei. „Dann Ticket von Seeed“, rufe ich verzweifelt und genervt. Ich drehe mich um, gehe zurück in mein Zimmer, schließe die Tür und stehe wieder vor meinem Adventskalender. „Ich war hier, hatte das Ticket“, schallt es dumpf von drüben. Seufzend mache ich das 22. Türchen meines Kalenders wieder zu und lege mich wieder ins Bett. „Einfach so, 100 Jahre“. Während ich mir die Decke über den Kopf ziehe denke ich: „noch zwei Tage, dann ist Weihnachten“. 

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